Einschränkung der Redefreiheit im Interesse des Gemeinwohls
«Ohne Meinungsfreiheit gibt es keine moderne Welt, nur eine barbarische.» Das sagt der chinesische Künstler Ai Weiwei. In diesem Essay schreibe ich über die Rede- und Meinungsfreiheit und darüber, dass diese in Gefahr ist. Auslöser war eine Aussage der Vorsitzenden der Grünen Irlands. Eine Aussage, die mir den Schauer über der Rücken jagte.
In Irland wird gerade über ein neues Gesetz diskutiert, mit welchem «Hate Speech» bekämpft werden soll. Solche Gesetze sind nichts neues. In vielen Ländern ist die Thematik der sogenannten «Hassreden» Teil des aktuellen politischen Diskurses. Einige Länder haben bereits diesbezügliche Gesetze eingeführt. Das Schweizer Strafgesetz verbietet Hassrede hauptsächlich aufgrund der Rasse, Ethnie, Religion oder der sexuellen Orientierung. Wer eine Person in diesem Zusammenhang öffentlich herabsetzt oder diskriminiert und dabei gegen die Menschenwürde verstösst, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. Die Tat wird von Amts wegen verfolgt – also auch ohne, dass die betroffene Person es verlangt.
Nicht generell unter Strafe gestellt sind hingegen diskriminierende Hassreden gegen Männer, Frauen, Transmenschen, Polizisten, Soldaten, Menschen mit Behinderungen oder soziale Minderheiten. Direkt Betroffene können sich aber trotzdem wehren, indem sie einen Strafantrag wegen Ehrverletzung stellen oder eine zivilrechtliche Klage erheben.
Nun stellen sich im Zusammenhang mit «Hate Speech» offensichtliche Schwierigkeiten. Einerseits ist es nicht einfach zu definieren, was nun genau Hassrede ist, andererseits stellt sich die Frage, wie die Abgrenzung von Hate Speech und dem Recht auf freie Meinungsäusserung gemacht werden kann. Beides sind ethisch sehr interessante Fragen und wie bei allen ethischen Fragen gibt es keine absolute Wahrheit, da diese im Auge des Betrachters liegt. Ethik ist eben eine Glaubensfrage.
Kommen wir aber zurück zu Irland. Es geht mir weniger um das Gesetz, als vielmehr um eine Aussage einer irischen Abgeordneten. Eine Aussage, die mir den kalten Schauer über den Rücken jagte.
Die Vorsitzenden der Grünen Partei, Pauline O’Reilly, erklärte vor dem irischen Senat folgendes:
"Wenn man darüber nachdenkt, geht es bei allen Gesetzen, bei allen Rechtsvorschriften um die Einschränkung der Freiheit. Das ist genau das, was wir hier tun. Wir schränken die Freiheit ein, aber wir tun es für das Gemeinwohl. Sie werden in unserer Verfassung sehen, dass Sie zwar Rechte haben, diese aber für das Gemeinwohl eingeschränkt werden. Alles muss ausgewogen sein. Wenn Ihre Ansichten über die Identität anderer Menschen dazu führen, dass deren Leben unsicher wird und sie sich so unwohl fühlen, dass sie nicht in Frieden leben können, dann ist es meiner Meinung nach unsere Aufgabe als Parlamentarier, diese Freiheiten der Bürger für das Gemeinwohl einzuschränken."
Wenn eine Politikerin oder irgendein Machthaber behauptet, dass man die Freiheiten von Menschen im Sinne des Gemeinwohls einzuschränken hat, dann löst das bei mir ein innerliches Unwohlsein aus. Vielleicht habe ich so etwas wie eine Totalitarismusphobie. Es ist aber so, dass die schlimmsten Verbrechen gegen die Menschheit immer im Namen des Allgemeinwohls begangen wurden.
Nur einige Beispiele:
Der Holocaust. Dieser wurde durch die angestrebte Rassenreinheit, welche dem Gemeinwohl der arischen Rasse dienen sollte, gerechtfertigt.
Die stalinistischen Säuberungen. Millionen Menschen wurden durch die Kommunisten zum Zwecke des «Aufbaus des Sozialismus» und zur «Sicherheit des Staates» ermordet, deportiert oder in Gulags inhaftiert.
Mao’s Kulturrevolution: Zur Durchsetzung des Sozialismus wollten die Kommunisten zwischen 1966 und 1976 die chinesische Gesellschaft von Andersdenkenden und «kapitalistischen Elementen» säubern. Dies führte zu brutaler und weit verbreiteter Gewalt, Verfolgung und Tod von Millionen von Menschen, im Name des Gemeinwohls.
Aber auch die Sklaverei, die Umsiedlung der Ureinwohner, die «ethnischen Säuberungen» in Ruanda oder auf dem Balkan wurden stets mit dem «Gemeinwohl» begründet.
In der Schweiz wurden bis 1987 Tausende durch die Vormundschafts- und Fürsorgebehörden zum Wohle der Allgemeinheit gezwungen sich sterilisieren oder kastrieren zu lassen. Ein weiteres schweizerisches Beispiel eines Verbrechens im Name des Allgemeinwohls ist das von 1926 bis 1972 laufende Projekt «Kinder der Landstrasse», welches zum Ziel hatte die Kinder von Fahrenden den vorherrschenden mehrheitsfähigen Lebensweise anzupassen und sie zu «brauchbaren» Arbeitern zu entwickeln. Rund 600 Kinder wurden ihren Eltern weggenommen und in Heime, Fremdfamilien oder in psychiatrischen Anstalten untergebracht oder als Verdingkinder an Bauernfamilien abgegeben.
Ronald Reagan sagte es treffend: "The nine most terrifying words in the English language are: I'm from the Government, and I'm here to help."
Und nun behauptet also die Vorsitzende der irischen Grünen Partei, dass es zum Wohle der Allgemeinheit ist, wenn die Rede- und Meinungsfreiheit eingeschränkt wird. Sie ist mit dieser Meinung nicht alleine. "Sowohl die Linken als auch die Rechten betrachten die Redefreiheit aus verschiedenen Blickwinkeln und üben unterschiedliche Kritiken an ihr", sagt der Däne Jacob Mchangama, Autor von "Free Speech: Eine Geschichte von Sokrates bis zu den sozialen Medien", das 2022 erschienen ist.
Rede- und Meinungsfreiheit sind wesentliche Pfeiler jeder demokratischen Gesellschaft, doch wie O'Reillys Aussage zeigt, sind sie ständigen Herausforderungen ausgesetzt. Um diese Freiheiten und ihre Bedeutung zu verstehen, müssen wir einen Blick auf die Geschichte werfen.
Wir haben Beispiele, wie die NS-Zeit in Deutschland oder Stalins Sowjetunion, wo die Meinungsfreiheit rigoros eingeschränkt wurde. Die Folgen waren nicht nur die Unterdrückung von Minderheiten und Andersdenkenden, sondern auch der Niedergang der Kreativität, des kritischen Denkens und der individuellen Freiheit.
Die Unterdrückung der Meinungsfreiheit kann auch auf Individuen erhebliche psychologische Auswirkungen haben. Eine der grundlegenden menschlichen Bedürfnisse ist das Bedürfnis, gehört und verstanden zu werden, und das Recht, die eigene Meinung frei zu äussern, ist ein zentraler Bestandteil dieses Bedürfnisses. Wenn diese Freiheit eingeschränkt wird, kann das zu einer Reihe negativer psychischer Auswirkungen führen.
1. Stress und Angst: Das ständige Leben in einer Gesellschaft, in der die Meinungsfreiheit unterdrückt wird, kann erheblichen Stress und Angst verursachen. Die Angst, wegen seiner Ansichten verfolgt oder bestraft zu werden, kann einen ständigen psychischen Druck erzeugen.
2. Unterdrückung von Gefühlen: Menschen, die ihre Meinung nicht frei äussern können, können sich dazu gezwungen fühlen, ihre wahren Gefühle zu unterdrücken. Dies kann zu Gefühlen der Isolation, Frustration und Entfremdung führen.
3. Niedriges Selbstwertgefühl: Wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihre Meinung nicht zählt oder dass sie dafür bestraft werden könnten, ihre Meinung zu äussern, kann das zu einem geringen Selbstwertgefühl führen.
4. Mangel an Authentizität: Die Unfähigkeit, seine Meinung frei zu äussern, kann Menschen daran hindern, authentisch zu leben. Dies kann zu Unzufriedenheit und Unruhe führen.
5. Depression: Langfristig kann die Unterdrückung der Meinungsfreiheit zu Gefühlen der Hoffnungslosigkeit und Depression führen. Der Mangel an Kontrolle über die eigenen Gedanken und Meinungen kann das Gefühl erzeugen, in einer aussichtslosen Situation gefangen zu sein.
Freie Meinungsäusserung sollte natürlich nicht ohne Respekt und Anstand sein, das ist selbstverständlich. Diejenigen, die diese Werte missachten, disqualifizieren sich mittel- und langfristig selbst und finden schlussendlich kein Gehör. Dies ist ein natürliches Regulativ, das den Staat als regulierende Macht im Zusammenhang mit der Redefreiheit überflüssig macht.
Historische Beispiele wie die kulturelle Revolution in China oder die Zeit der Apartheid in Südafrika zeigen, dass staatliche Zensur zu Unterdrückung, Frustration, Hass und schliesslich Gewalt führt. Diese Beispiele mahnen uns, wachsam zu bleiben und die Meinungsfreiheit zu schützen.
Wir müssen erkennen, dass die Vielfalt der Meinungen und Ideen unsere Gesellschaft weiterbringt. Sie ermutigt uns, unsere Überzeugungen zu hinterfragen, unseren Horizont zu erweitern und ständig zu lernen. Sie ist die Basis für Fortschritt, Kreativität und Innovation.
Meine Damen und Herren, ich fordere Sie, sich für die Meinungsfreiheit einzusetzen und andere Meinungen zu akzeptieren, auch wenn sie von unseren eigenen abweichen und auch wenn sie manchmal bei uns unangenehme Emotionen auslösen. Lassen Sie uns gemeinsam eine Gesellschaft schaffen, die auf Respekt, Toleranz und der freien Meinungsäusserung basiert. Lassen Sie uns daran arbeiten, Diskurse zu führen, die nicht von Wut, Hass oder Angst angetrieben sind, sondern von der Erkenntnis, dass wir nur durch Vielfalt und gegenseitigen Respekt wachsen können.
Es gibt einen schönen Ausspruch von Evelyn Beatrice Hall, die einst sagte: "Ich mag deine Meinung nicht, aber ich würde bis zum Tod dein Recht verteidigen, sie zu äussern." Diese Worte repräsentieren das Herz der Meinungsfreiheit – die Bereitschaft, uns selbst herauszufordern, um andere Perspektiven zu verstehen und zu respektieren, auch wenn wir uns ihrer nicht anschließen.
Unsere Meinungen, unser Streben nach Wahrheit, unser Mut, sie zu äussern und unsere Bereitschaft, andere zu hören, sind das, was uns menschlich macht. Sie sind unser effektivstes Werkzeug, um die Welt zu gestalten. Aber um sie effektiv nutzen zu können, müssen wir die Rede- und Meinungsfreiheit schützen und pflegen.
Gleichzeitig sollten wir erkennen, dass Meinungsfreiheit nicht bedeutet, dass jede Äusserung ohne Konsequenzen ist. Worte haben Gewicht und können Menschen verletzen. Hier kann die Philosophie des Stoizismus eine wertvolle Perspektive bieten. Stoiker glauben, dass wir nicht durch äussere Ereignisse verletzt werden, sondern durch unsere Reaktionen und Interpretationen dieser Ereignisse. Sie argumentieren, dass wir die Kontrolle über unsere eigenen Gedanken und Gefühle haben und daher in der Lage sind, uns dafür zu entscheiden, nicht durch die Worte oder Handlungen anderer Menschen verletzt zu werden.
Nach dem stoischen Verständnis können wir nicht durch das, was andere Menschen sagen oder tun, verletzt werden, da diese Dinge ausserhalb unserer Kontrolle liegen. Stattdessen betonen sie, dass wir die Kontrolle darüber haben, wie wir auf diese Ereignisse reagieren und welche Bedeutung wir ihnen beimessen.
Im Kontext der Meinungsfreiheit bedeutet dies, dass die Worte und Meinungen anderer uns gar nicht verletzen können, es sei denn, wir lassen es zu. Wenn wir uns dafür entscheiden, uns durch die Meinungen anderer nicht bedroht oder verletzt zu fühlen, dann haben diese Worte keine Macht über uns.
Statt zu jammern und sich zu beschweren, dass andere uns mit ihren Worten verletzen und triggern, sollten wir Verantwortung für unsere eigenen Gefühle übernehmen und erkennen, dass wir die Kontrolle über unsere Reaktionen haben.
Der berühmte Psychiater und Holocaust-Überlebende Viktor Frankl sieht es ähnlich. Der Erfinder der Logotherapie ist der Meinung, dass wir immer die Freiheit haben, unsere Einstellung zu wählen, egal wie herausfordernd oder schmerzhaft unsere Umstände sein mögen. "Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum", schrieb Frankl, "und in diesem Raum liegt unsere Macht, unsere Reaktion zu wählen."
Frankl ist der Meinung, dass wir die Kontrolle darüber haben, wie wir auf negative oder schmerzhafte Äusserungen reagieren. Anstatt zuzulassen, dass die Worte anderer unsere Gefühle verletzen, sollten wir uns dafür entscheiden, uns auf unsere Fähigkeit zu konzentrieren, Sinn und Zweck in unserer Reaktion zu finden.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Sichtweise des bekannte Psychoanalytiker Albert Adler. In Bezug auf verletzte Gefühle sah Adler diese als Resultat eines Gefühls der Minderwertigkeit oder eines Mangels an Gemeinschaftsgefühl. Ein Mensch, der sich minderwertig fühlt, fühlt sich gemäss Adler leichter verletzt, weil Kritik oder negative Äusserungen seine negativen Selbstwahrnehmungen verstärken könnten. Ebenso könnte jemand, der ein schwaches Gemeinschaftsgefühl hat, sich eher durch die Meinungen und Handlungen anderer verletzt fühlen, weil er sich isoliert oder missverstanden fühlt.
Die Meinungsfreiheit einzuschränken, nur weil von den eigenen Standpunkten abweichende Meinungen uns unwohl fühlen lassen, ist somit der völlig falsche Weg. Vielmehr sollten wir in unserer Gesellschaft die tolerante Auseinandersetzung mit Meinungen fördern. Gleichzeitig sollten wir den Menschen helfen, dass sie ein stärkeres Selbstwertgefühl bekommen und sich nicht wegen jeder Kleinigkeit und jeder abweichenden Meinung, einem Wort oder einem Bild sich getriggert fühlen und die Fassung verlieren.
In diesem Sinne sollten uns auch die Worte der Vorsitzenden der Grünen Partei, Pauline O’Reilly, nicht erschrecken, sondern inspirieren, noch mehr für die Erhaltung unserer Freiheiten einzutreten. Nicht aus Angst vor Einschränkungen, sondern aus dem Verständnis heraus, dass unsere Freiheit der Rede und Meinungsäusserung die Grundlage für eine funktionierende, gerechte und prosperierende Gesellschaft ist.
Lassen Sie uns also den Mut haben, unsere Meinungen zu äussern und die Meinungen anderer zu hören. Lassen Sie uns den Respekt haben, zuzuhören, selbst wenn wir uns nicht einig sind. Und lassen Sie uns die Integrität haben, unsere eigenen Überzeugungen zu hinterfragen und uns von den Meinungen anderer herausfordern zu lassen.
Die Rede- und Meinungsfreiheit ist ein mächtiges Werkzeug in unseren Händen. Es liegt an uns, es weise zu nutzen, es zu schätzen und es zu verteidigen. Wir brauchen keine Gesetze, welche die zwischenmenschliche Kommunikation regulieren oder einschränken. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass unsere Zukunft eine ist, in der jeder Mensch das Recht und die Freiheit hat, seine Meinung zu äußern, und in der diese Meinungen das Potenzial haben, die Welt zum Besseren zu verändern.
In diesem Sinne fordere ich Sie auf, sich dafür einzusetzen, dass die Meinungs- und Redefreiheit bewahrt, gepflegt und geschätzt wird. Nicht nur für uns, sondern für die kommenden Generationen. Dies ist unsere Aufgabe und unsere Verantwortung. Und ich bin zuversichtlich, dass wir dieser Herausforderung gewachsen sind. Denn wenn wir uns der Meinungs- und Redefreiheit verschreiben, schaffen wir eine Welt, die reicher ist an Verständnis, Mitgefühl und Fortschritt.
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