Leitsätze sind Bullshit – warum Organisationen Geschichten brauchen
- Mathias Müller
- 23. März
- 3 Min. Lesezeit
Von „Fairness“ über „Integrität“ bis „Nachhaltigkeit“ – kaum eine Organisation kommt heute ohne Leitsätze aus. Doch sind diese Begriffe wirklich nützlich? Oder nur moralisch verklärte Worthülsen? Was Unternehmen wirklich Orientierung gibt, ist nicht das Leitbild an der Wand – sondern die Geschichte, die sie erzählen.
Zum Youtube-Video: https://youtu.be/dLEqmIY0RJo?si=QivLKNZ6uRaJAlLR
Die Illusion der Leitsätze
Sie klingen gut. Sie sehen gut aus. Und sie lassen sich hervorragend in PowerPoint-Präsentationen einbauen: Leitsätze. Begriffe wie Fairness, Respekt, Exzellenz oder Integrität begegnen uns in nahezu jeder Organisation. Auf Plakaten, in Leitbildern, in der Unternehmenskommunikation. Aber wer lebt sie wirklich?
In einem Leadership-Seminar an einer Berufsschule fragte ich rund 60 Lehrpersonen: „Kennen Sie die Leitsätze Ihrer Schule?“ Niemand wusste sie. Auch nicht mit Hilfestellung. Nur der Direktor konnte sie zitieren – er hatte sie selbst formuliert. Ein Einzelfall? Leider nicht.
Wenn alles gemeint sein kann – ist nichts gemeint
Der fundamentale Fehler vieler Leitsätze liegt in ihrer Unschärfe. Was bedeutet Fairness? Für John Rawls bedeutet es, die Schwächsten zu schützen. Für Robert Nozick: den Schutz von Eigentumsrechten. Zwei gegensätzliche Philosophien – ein Wort.
Auch Respekt bleibt mehrdeutig. Bedeutet er, andere Meinungen stehenzulassen – oder genau diese zu hinterfragen? Mut – bedeutet das Widerspruch, oder einfach nur das Reden im Meeting? So bleibt jeder dieser Werte interpretationsfähig – und damit wirkungslos.
Max Weber brachte es auf den Punkt: Werte ohne klare Handlungsanweisung sind wertlos.
Die schöne Verpackung der Politik
Auch in der Politik bedienen sich viele an dieser moralischen Rhetorik. Beispielhaft antwortete SPD-Innenpolitiker Helge Lindh auf Kritik zur Migrationspolitik mit dem Hinweis auf einen „ganzheitlichen Ansatz zur Senkung irregulärer Migration“. Klingt komplex. Sagt aber – nichts.
Der Philosoph Slavoj Žižek spricht von „ideologischen Fantasien“ – Sprachgebilden, die gut klingen, aber keine Realität erzeugen. Sie dienen der moralischen Selbstvergewisserung, nicht der Veränderung.
Was stattdessen funktioniert: Konkrete Sprache – oder besser noch: Geschichten
Anstatt in Plattitüden zu flüchten, braucht es Klarheit:
• Statt Integrität: „Wir entlassen Mitarbeitende, die Compliance-Regeln brechen.“
• Statt Fairness: „Unsere Gehaltsstruktur ist öffentlich einsehbar.“
Oder – noch wirkungsvoller – eine Geschichte, die zeigt, wofür man steht.
Die Macht der Ursprungsgeschichte
Menschen erinnern sich nicht an Prinzipien. Sie erinnern sich an Geschichten.
Die Fremdenlegion lebt Camarón – eine Schlacht 1863, in der 65 Legionäre sich heldenhaft gegen 2000 Feinde wehrten. Diese Geschichte wird jedes Jahr gefeiert – nicht als Denkmal, sondern als Verpflichtung. Kein abstrakter Leitsatz wie „Ehre“ wirkt so stark.
Starbucks entstand aus der Idee von Howard Schultz, italienische Cafékultur in die USA zu bringen – nicht nur als Geschäftsmodell, sondern als sozialer Ort.
Patagonia wurde gegründet, weil Yvon Chouinard seine eigenen Kletterhaken verbessern wollte – und damit den Grundstein für nachhaltige Produktion legte.
Was Geschichten leisten – und Leitsätze nicht
Danny Brooks, ehemaliger Innovationschef bei Starbucks, sagt:
„Wenn du grossartige Statements machst, hört dir keiner zu. Wenn du eine Geschichte erzählst – hören alle hin.“
Eine gute Geschichte ist nicht nur nach aussen wirksam. Sie hilft intern, Entscheidungen zu treffen:
„Passt das zu unserer Geschichte? Wenn nein – tun wir es nicht.“
So einfach kann Orientierung sein.
Fazit: Organisationen brauchen keine Leitsätze. Sie brauchen Herkunft.
Leitsätze sind bequem. Aber sie verändern nichts. Sie sagen viel – und bedeuten wenig.
Eine gute Geschichte hingegen verbindet. Inspiriert. Verbindet Vergangenheit mit Zukunft. Und gibt Orientierung.
Also mein Aufruf an dich:
Wenn du eine Organisation führst – schreib nicht den nächsten Leitwert auf. Schreib eure Geschichte.
Fragt euch:
• Was war der Moment, der alles veränderte?
• Welche Werte stecken in unserer Geschichte – nicht in unserer Broschüre?
• Was treibt uns wirklich an?
Denn: Wenn du eine echte Geschichte hast, brauchst du keinen Leitsatz mehr.
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