Grösse in der Niederlage - Die Weisheit des Anthony Joshua

Niederlagen und Misserfolge sind schmerzlich, man fühlt sich als Versager. Die Enttäuschung darüber provoziert nicht selten (peinliche) emotionale Reaktionen. Doch der Beweis für charakterliche Grösse ist nicht in unseren Siegen und Erfolgen zu finden, sondern in der Art und Weise wie wir Niederlagen ertragen. Ein diesbezügliches Vorbild ist der ehemalige Box-Weltmeister Anthony Joshua.
Seit dem 17. September 1920 werden im Madison Square Garden in New York regelmässig Boxkämpfe ausgeführt, unter anderem kämpfte Muhammad Ali in den Siebziger Jahren zweimal gegen Joe Frazier. Eine derartige Überraschung, wie sie die Zuschauer am 1. Juni 2019 aber erlebten, hat auch im Madison Square Garden absoluten Seltenheitswert. In den letzten 99 Jahren gab es kaum einen sensationelleren Sieger, als den mexikanisch stämmigen Schwergewichtsboxer Andy Ruiz.
Gerade einmal sechs Wochen hatte Andy Ruiz Zeit, um sich auf den Titelkampf gegen Anthony Joshua aus England vorzubereiten. Es war nämlich geplant gewesen, dass der Modellathlet seinen Titel gegen Jarrell Miller verteidigen sollte. Da Miller aber der Einnahme von Endurobol überführt wurde, kam es nicht dazu. Für den gesperrten Amerikaner musste kurzfristig ein Ersatz gesucht werden. Gefunden wurde dieser in der Person von Andy Ruiz.
Nicht nur die Experten waren sich sicher, dass der 20 Zentimeter kleinere Ruiz gegen Joshua nicht den Hauch einer Chance hat. Nicht nur der Grössenunterschied ist frappant, auch die Physis. Der Mexikaner nennt sich selbst „das kleine fette Kind“. So wurde er früher gehänselt, so sieht er auch Heute noch aus. In Boxershorts und mit nackten Oberkörper sieht der sympathische Ruiz aus wie ein übergewichtiger Tourist am Strand von Acapulco, aber sicher nicht wie ein ernst zu nehmender Titelanwärter. Ganz im Gegensatz dazu Anthony Joshua. Der ebenso sympathische Brite entspricht mit seinen auf 2.08 Meter verteilten 113 Kilogramm einem Idealathleten. Wo Anthony Joshua die Muskeln spielen lassen kann, schwabbeln bei Ruiz die Fettpolster.
Aber der 29 Jahre alte Aussenseiter hat es dennoch geschafft. Nachdem Ruiz den Briten viermal niedergestreckt hatte, siegte er in der siebten Runde durch technischen K.o.. Ruiz hatte das Unmögliche geschafft, er entthronte den an sich als unbesiegbar geltenden Favoriten, und wurde als erster Amerikaner mit mexikanischen Wurzeln Box-Weltmeister im Schwergewicht. Ruiz schrieb am 1. Juni 2019 Boxgeschichte.
Was aber genauso bemerkenswert ist wie der sensationelle Sieg des „fetten Kindes“, ist die Reaktion des Verlierers. Wie oft sehen wir im Sport, in der Politik, in der Unterhaltungsbranche oder in anderen Lebensbereichen Menschen, die aufgrund einer Niederlage oder einer Enttäuschung völlig die Fassung verlieren?
In John Steinbecks Roman „König Artus und die Heldentaten der Ritter seiner Tafelrunde“wird König Artus beinahe durch König Pellinore umgebracht. Im letzten Moment interveniert Merlin und rettet König Artus. Dieser ist am Boden zerstört: „Er hat mich bezwungen,“ jammert Artus. Merlin antwortet darauf: „Irgendwo auf der Welt gibt es eine Niederlage für jeden. Einige werden durch Niederlagen zerstört, andere werden durch Siege klein und gemein. Grösse lebt in dem, der gleichermassen über Niederlage und Sieg triumphiert“.
Es ist klar, dass niemand gerne verliert, und um ehrlich zu sein, es ist tatsächlich schwierig, immer ein anständiger Verlierer zu sein. Dass es aber möglich ist, auch wenn man völlig unerwartet vom Thron gestossen wird, zeigte auf eindrückliche Art und Weise der besiegte Anthony Joshua.
Statt seinen Kopf hängen zu lassen, ihn ungläubig zu schütteln und die Arme zu verwerfen oder wutentbrannt durch den Ring zu stampfen, gratulierte ein freundlich dreinschauender Joshua dem neuen Weltmeister: „Gratulation. Das ist Dein Tag Champion“. Von britischen Journalisten wurde der Verlierer dafür kritisiert. So verhalte sich kein echter Siegertyp, hiess es. Es sei ihm wohl egal gewesen zu verlieren, wurde die Geste interpretiert.
Im Nachgang des Kampfes analysierte Anthony Joshua an einer Medienkonferenz seine Niederlage. Seine Worte sind diejenigen eines wohlüberlegten, intelligenten Mannes. Es sind die Worte eines Philosophen, eines echten Champions.
Respekt gegenüber dem Sieger
„Er war heute Abend der bessere Kämpfer, er kam um zu Siegen“, so Anthony Joshua über seinen Bezwinger. Knapp, klar und ehrlich.