"Ich war Arzt und Alkoholiker" – Dr. Stefan Neff über Alkohol, Trauma und den Weg zurück ins Leben
- Mathias Müller
- vor 12 Minuten
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Er war erfolgreicher Arzt, Anästhesist, Schmerzmediziner, Taucher, Unternehmer. Und er war Alkoholiker. In der 158. Folge des Podcasts Der stoische Pirat erzählt Dr. Stefan Neff seine radikale Lebensgeschichte – ungeschönt, erschütternd, inspirierend. Eine Geschichte, die zeigt: Sucht beginnt nicht auf der Strasse. Sie beginnt im Innersten. „Wir tun so viele Dinge, bei denen wir uns hinter Masken verstecken – irgendwann wissen wir gar nicht mehr, wer wir wirklich sind“, sagt Neff zu Beginn. Und diese Masken, so wird im Gespräch deutlich, tragen nicht nur die Verwahrlosten – sondern auch die Erfolgreichen.
Kein Bahnhofstrinker – aber süchtig
Wenn wir an Alkoholismus denken, sehen wir oft das Bild vom Obdachlosen mit der Bierdose. Doch Neff zerreisst dieses Klischee: „Alkohol und Sucht betrifft jeden. Ich habe in der Reha Menschen aus jeder Schicht getroffen – Aerzte, Richter, Lastwagenfahrer. Es ist Blödsinn zu glauben, das betrifft nur die anderen.“
Seine Karriere war beeindruckend: Von der Realschule zum Gymnasium, dann Medizinstudium in Heidelberg. Doch hinter den Erfolgen verbarg sich ein Gefühl tiefster Wertlosigkeit. „Ich habe immer geglaubt, ich sei ein Fehler. Ich bin ein Stück Scheisse, keiner liebt mich – das war meine Überzeugung“, gesteht er offen. Diese Leere versuchte er mit Leistung, Sex, Arbeit – und Alkohol – zu füllen.
Der Dopamin-Rausch als Offenbarung
Seine erste bewusste Erfahrung mit Alkohol beschreibt Neff eindrücklich: „Ich sass im Biergarten, hörte ein herzliches Lachen – und realisierte: Das war ich. Zum ersten Mal lachte ich aus tiefstem Herzen.“ Dieses Erlebnis verknüpfte er mit dem Alkohol. „Es war wie ein Dopamin-Tsunami. Plötzlich war ich frei, offen, geliebt.“
Doch dieser erste Rausch liess sich nie wieder reproduzieren. „Also trank ich mehr. Und mehr. Immer auf der Suche nach diesem Gefühl. Aber es kam nie zurück.“
Der Getriebene
Neff wurde zum Workaholic. Er eröffnete eine Praxis in Neuseeland, bildete sich weiter, spezialisierte sich – immer getrieben vom Wunsch, sich selbst zu entkommen. „Ich wollte immer mehr, besser sein als alle anderen. Aber ich war nie zufrieden.“
Diese Rastlosigkeit ist kein Einzelfall. „Viele Fuehrungspersonen, Unternehmer, Aerzte – sie alle tragen tiefe innere Unsicherheit mit sich. Sie suchen Anerkennung, weil sie sich selbst nicht genuegen.“
Und diese Suche ist nicht nur individuell – sie ist gesellschaftlich. „Wir leben in einer Welt, in der Shaming und Bewertung allgegenwaertig sind. Likes ersetzen Liebe. Und jeder spielt eine Rolle.“
Die Wende – durch Liebe
Der Wendepunkt kam nicht durch Einsicht – sondern durch bedingungslose Liebe. „Ich war verkatert, lag im Bett. Da kamen meine Frau und meine beiden Söhne ins Zimmer, legten sich zu mir, hielten mich und sagten: 'Wir haben dich lieb.' Das hat mich komplett entwaffnet.“
Wenige Tage spaeter wurde er in eine Rehaklinik eingewiesen – seine Familie hatte alles organisiert. Vier Wochen lang lernte Neff dort, sich selbst zu begegnen. „Ich erkannte: Sucht ist nicht das Problem. Sucht ist die Lösung – für ein Loch, das anders nicht zu füllen war.“
Vom Alkoholiker zum Heiler
Heute arbeitet Neff als funktionaler Mediziner. Er denkt ganzheitlich – berät Menschen zu Ernährung, Schlaf, Hormonen, Bewegung, emotionaler Intelligenz. Er hat über 50 Kilo abgenommen, treibt Sport, meditiert, macht Yoga, geht selbst bei 18 Grad ins Wasser. „Ich lebe heute ein Leben, das ich früher für unmöglich gehalten hätte.“
Seine Herzkranzgefässe? „Wie bei einem Baby“, sagt er mit einem Lächeln. „Ich hätte längst tot sein müssen. Aber ich lebe. Und ich will ein Vorbild sein – für meine Enkel, für andere Männer. Für mich selbst.“
Spiritualität ohne Dogma
Dabei versteht sich Neff nicht als religiös. „Ich glaube nicht an einen klassischen Gott. Aber ich bin spirituell geworden. Ich habe eine Rückführung unter Hypnose gemacht – und dabei etwas erfahren, das mir half, meine Vergangenheit besser zu akzeptieren.“
Spiritualität heisst für ihn nicht, an Engel zu glauben – sondern den Mut zu finden, ehrlich auf sich selbst zu blicken. „Vielleicht ist meine Mission in diesem Leben, zu lernen, wie man mit Schmerz umgeht. Dann tue ich das jetzt.“
Die zwölf Schritte – neu gedacht
In seinem Buch My Steps to Sobriety verarbeitet Neff seine Geschichte und verbindet sie mit einem modernen, nicht-religiösen Zugang zu den Zwölf Schritten der Anonymen Alkoholiker. „Sie sind im Grunde nichts anderes als ein Coaching-Plan unter Freunden. Man analysiert, reflektiert, handelt – gemeinsam.“
Das Buch richtet sich nicht nur an Alkoholiker. Sondern an alle, die sich fragen: Bin ich glücklich? Bin ich ehrlich mit mir selbst? Lebe ich wirklich?
„Es gibt keine Wunderpille. Keine App. Kein Coach, der dein Leben fuer dich lebt. Aber du kannst heute beginnen, es selbst in die Hand zu nehmen.“
Gesellschaftliche Blindheit gegenüber Sucht
Neff kritisiert auch den gesellschaftlichen Umgang mit Sucht. „Alkohol ist in Deutschland normalisiert bis zur Selbstverleugnung. In jeder Fernsehserie wird gesoffen. Und wer keinen Alkohol trinkt, wird schief angeschaut.“
Sucht beginne oft subtil: „Ein Stück Käsekuchen zu viel. Eine Stunde Candy Crush. Ein ständiger Blick aufs Handy. Wir betäuben uns alle – jeden Tag.“
Was hilft? „Erstens: Ehrlichkeit. Zweitens: Verantwortung. Drittens: Liebe. Zu sich selbst.“
Erste Schritte in die Veränderung
Am Ende des Gesprächs teilt Neff eine einfache, aber berührende Übung: „Leg den rechten Arm auf die linke Schulter, den linken auf die rechte. Drück dich. Sag laut: Ich hab dich lieb. Du hast Fehler gemacht, aber auch Wunderbares. Ich hab dich lieb.“
Dann rät er: „Schreib dir 15 Minuten am Tag deine Gedanken auf. Beginne ein Journal. Das aktiviert dein Unterbewusstsein. Und es verändert dich – langsam, aber tief.“
Denn Veränderung beginnt nie im Aussen. Sondern im Innern. Jeden Tag ein Prozent besser. Das reicht.
Mehr von Dr. Stefan Neff:
Website & Selbsttests: https://neffinspiration.com
Buch: My Steps to Sobriety
Podcast: Steps to Sobriety
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