Das Leben als Musikstück sehen
In diesem Essay spreche ich über die Betrachtungsweise des Lebens. Kürzlich stolperte ich auf YouTube über eine Sequenz eines Vortrages des Religionsphilosophen Alan Watts, der eine ganz interessante Sichtweise zum Leben hat. Er vergleicht dieses nämlich mit einem Musikstück.
Alan Watts war ein einflussreicher Philosoph im 20. Jahrhundert. Seinen Durchbruch hatte er mit seinem im Jahre 1957 veröffentlichten Buch mit dem Titel: „The Way of Zen“, in welchem er den Zenbuddhismus einer breiten westlichen Leserschaft näherbrachte. Watts, der auch mit psycholdelischen Drogen experimentierte, war bei den Beatniks und später in der Hippie-Szene sehr populär.
Watts hat in seinen Büchern und Vorträgen viele interessante Gedankenanstösse geliefert. Es lohnt sich meines Erachtens, sich mit Watts auseinanderzusetzen.
Die meisten von uns betrachten das Leben als eine Reise; wir teilen das Leben in Zeitabschnitte ein, von denen die grundlegendsten die Geburt, die Kindheit, die Jugend, das Arbeitsleben, der Ruhestand und der Tod sind. Um ehrlich zu sein, so habe ich das Leben bisher auch gesehen, und vielleicht ist diese Sichtweise in gewissem Sinne auch richtig, sie erscheint auf jeden Fall irgendwie logisch.
Alan Watts hat aber einen ganz anderen Ansatz wie das Leben zu betrachten ist.
Es gibt gemäss Watts nämlich ein grundsätzliches Problem damit, das Leben als eine Reise zu betrachten. Eine Reise ist schliesslich nichts anderes als ein Mittel zum Zweck. Die Reise ist das Mittel um eine Reiseziel zu erreichen. Wir fliegen um zum Beispiel in die USA zu gelangen. Wir nehmen den Zug um nach Paris zu kommen u.s.w. eine Reise hat somit immer ein Ziel.
Wenn das Leben nun eine Reise ist und diese mit dem Tod abgeschlossen wird, dann wäre der Tod das Ziel des Lebens. Weiter müssten wir bei nüchterner Betrachtung dann zum Schluss kommen, dass wenn das Leben tatsächlich eine Reise ist, wir die meiste Zeit mit dem Reisen verbringen, mit dem Reisen hin zu unserem Ziel.
Wie angetönt ist die Reise in der Regel nur Mittel zum Zweck. Ein Flug irgendwohin ist keine erfüllende Angelegenheit, sondern eben nur ein notwendiges Übel. Das Leben sollte meines Erachtens aber definitiv nicht als notwendiges Übel betrachtet werden.
Nun stellt sich die Frage, wie wir die Zeit nutzen, die wir haben, sozusagen die Zeit, die man als Reisezeit bezeichnen kann. Mit anderen Worten: das Hier und Jetzt.
Wir glauben oft, dass Glück erst dann eintritt, wenn bestimmte Ziele erreicht sind. Uns wird beigebracht, dass Glück ein Ziel ist, ein Ort, an den wir gelangen, wenn wir etwas erreicht haben.
Ich bin sicher, Sie wissen, wovon ich spreche. Wir denken, wir wären glücklich, wenn wir befördert werden, wenn wir 10 Kilo abnehmen, wenn wir ein grösseres Haus kaufen können, eine Ausbildung abgeschlossen haben oder wenn wir eine Gehaltserhöhung bekommen.
Wir glauben, dass Glück das Ergebnis von Erfolg ist.
Erfolg bedeutet für uns, viel Geld zu verdienen, auf der Karriereleiter ganz oben zu stehen, eine Meisterschaft zu gewinnen, einen akademischen Abschluss zu machen, erfolgreiche Kinder zu haben, einen schicken Titel zu besitzen, eine tolle Reputation zu geniessen usw.
Das heisst, wir befinden uns ständig auf der Reise zum Endziel Glück.
Vielmehr sollten wir aber mit dem zufrieden sein, was wir haben, und unser Glück nicht aufschieben, in der Hoffnung, dass wir später mehr Zeit haben, es zu geniessen. Oder dem Irrglauben verfallen, dass das wahre Glück dann irgend einmal eintrifft, wenn wir eben noch etwas mehr verdienen oder noch einen Karriereschritt mehr gemacht haben.
Viele Menschen gehen davon aus, dass der Sinn unseres Lebens dadurch bestimmt wird, wie erfolgreich wir in der Schule, an der Universität oder im Beruf sind, wie hoch unser Status in der Gesellschaft ist oder wie erfolgreich unsere Kinder sind.
Wir denken, je erfolgreicher wir sind, desto mehr Bewunderung bekommen wir und desto glücklicher sind wir. Wir bewundern erfolgreiche Menschen und glauben, dass sie glücklich sein müssen.
Diese Illusion kann uns auf positive Weise dazu inspirieren, an uns selbst zu glauben und zu versuchen, grosse Dinge zu erreichen. Aber es gibt auch eine negative Auswirkung dieser Illusion, dass Erfolg gleich Glück ist. Sie schürt nämlich den Neid in den Menschen. Und das ist meiner Meinung nach zusammen mit kommunikativen Missverständnissen der wichtigste Grund für Konflikte in unserer Welt.
Gleichzeitig schürt der Glaube an die Gleichung Erfolg gleich Glück eine falsche Erwartungshaltung. Schliesslich hängt Enttäuschung immer mit der nicht Erfüllung von Erwartungen ab. Sprich: Wir riskieren ständig unzufrieden zu sein, weil unsere Erwartung nicht erfüllt wird. Dieses Phänomen hat auch einen Namen: Die hedonistische Tretmühle.
Was könnten wir also tun, um unser Leben zu geniessen und glücklich zu sein, anstatt dem Erfolg hinterherzujagen, in der Illusion, dass dieser Erfolg uns dem Sinn des Lebens näherbringt, sprich der ersehnten Glückseligkeit?
Watts fordert uns auf, die Idee, dass das Leben eine Reise sei, abzulegen. Das Leben geht nirgendwo hin, so Watts. Das heisst, das Leben an sich hat kein Ziel, an dem es ankommen müsste. Anstatt das Leben als eine Reise zu betrachten, rät Watts uns, das Leben mit Musik zu vergleichen. Er sagt uns auch, dass das Leben keine Arbeit ist, sondern eher ein Spiel. Watts begründet dies wie folgt: "Weil Musik als Kunstform im Wesentlichen spielerisch ist. Man sagt schliesslich auch: "Du spielst Klavier", und nicht „du arbeitest am Klavier.“
In einem Spiel darf man Fehler machen, man muss aber auch akzeptieren, dass andere Fehler machen. Im Spiel hat man manchmal Glück und manchmal Pech. Wenn man das Leben als Spiel betrachtet, erhält das Leben eine gewisse Leichtigkeit und verliert die oftmals erdrückend wirkende Ernsthaftigkeit.
Und warum sollen wir das Leben eher mit einem Musikstück als mit einer Reise vergleichen?
Wenn man reist, versucht man, einen Zielort zu erreichen. Die Reise ist wie bereits gesagt das Mittel zum Zweck. Das Ziel eines Liedes oder eines Musikstücks ist es aber nicht zum Ende der Komposition zu kommen.
Watts sagt dazu:
„Wenn das so wäre, wären die besten Dirigenten die, die am schnellsten spielen. Und es gäbe Komponisten, die nur Finales schreiben würden. Die Leute würden in ein Konzert gehen, nur um einen knisternden Akkord zu hören... Denn das ist das Ende!
Genauso ist es beim Tanzen. Man zielt nicht auf eine bestimmte Stelle im Raum, weil man dort ankommen muss. Der ganze Sinn des Tanzens ist der Tanz."
In diesem Sinne besteht der ganze Sinn des Lebens darin, es zu leben.
Dies ist im Grunde die gleiche Argumentation wie bei Albert Camus, der sagt:
„Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem und das ist der Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben lebenswert ist oder nicht, ist die Antwort auf die grundlegende Frage der Philosophie. Alle anderen Fragen ergeben sich daraus".
Wenn das Ende das Ziel ist, dann wäre der Tod das Ziel des Lebens. Aber wenn der Tod das Ziel ist, warum nehmen wir dann nicht eine Abkürzung?
Watts sagt weiter: "Schauen Sie sich die Menschen an, die leben, um in Rente zu gehen, und dafür fleissig gespart haben. Und wenn sie dann 65 sind, haben sie keine Energie mehr. Sie sind mehr oder weniger impotent. Und dann verrotten sie in irgendwelchen Altersheimen, weil sie sich auf der ganzen Linie einfach selbst betrogen haben."
Aber was bedeutet es, zu leben? Wie können wir wirklich leben? Viele Menschen leben das Leben nicht, sie überleben es nur und am Ende bleibt nur das Bedauern. Bedauern über ein vergeudetes Leben.
Nach Watts bedeutet Leben eben nicht, einem Ziel hinterherzujagen, sondern sich jedes Augenblicks bewusst zu sein und sich im Einklang mit dem Moment zu bewegen, so wie wir nach der Musik tanzen.
Nun stellt sich die Frage, wie wir das tun können.
Nun, wir müssen uns des Augenblicks bewusst werden.
Der Augenblick ist die einzige Zeit, die wir leben. Die Vergangenheit ist nur eine Erinnerung und die Zukunft nur eine Vermutung. Aber in der Gegenwart zu leben ist keine einfache Fähigkeit, sie muss bewusst geübt werden. Der Stoiker Seneca rät:
"Das wahre Glück besteht darin, die Gegenwart zu geniessen, ohne sich ängstlich auf die Zukunft zu verlassen, uns weder mit Hoffnungen noch mit Ängsten abzugeben, sondern mit dem zufrieden zu sein, was wir haben, was ausreichend ist, denn wer so ist, dem fehlt nichts."
Und der römische Kaiser und stoische Philosoph Marcus Aurelius sagte:
"Lass dich niemals von der Zukunft beunruhigen. Du wirst ihr, wenn es sein muss, mit denselben Waffen der Vernunft begegnen, die dich heute gegen die Gegenwart wappnen."
Im Augenblick zu leben bedeutet, das zu schätzen, was man hat, dankbar zu sein für die guten Dinge, die Teil des eigenen Seins sind.
Watts Idee, das Leben als ein Lied oder einen Tanz zu sehen, ist für mich sehr überzeugend. Man kann das Musikstück mögen, auch wenn während des Liedes mal eine falsche Note gespielt wurde.
Man kann eine Oper mögen, auch wenn einem nicht alle Teile gleich gut gefallen, vielleicht gibt es sogar Passagen, die einem missfallen. Man kann einen Tanz mögen, auch wenn man einmal einen Fehltritt gemacht hat. Und es gibt Leute, die lieben den Tanz, auch wenn man als Beobachter das Gefühl hat, dass ihnen der ganze Rhythmus fehlt.
Man muss nicht Pavarotti oder Elvis sein, um gerne zu singen, oder Fred Astaire oder Rudolf Nurejew, um gerne zu tanzen! Das heisst jeder von uns ist in der Lage das Leben zu geniessen, man muss nicht besonders reich, erfolgreich, oder klug sein, man muss auch nicht von den Massen bewundert werden.
In gewisser Weise ist das Leben wie ein Boxkampf. Wer jemals einen Ring betreten hat, weiss, dass man gezwungen ist, sich auf den Moment zu konzentrieren. Man hat keine Zeit, über verpasste oder erhaltene Schläge nachzudenken, und man hat keine Zeit, darüber nachzudenken, was in den nächsten Minuten passieren wird.
Alles, was es gibt, ist der gegenwärtige Moment. Und wie im Leben, hat man manchmal die Oberhand und manchmal wird man niedergeschlagen. Alles, was man tun kann, ist, den gegenwärtigen Moment mit all seinen positiven und negativen Seiten nicht nur zu akzeptieren, sondern ihn zu umarmen.
Da wir wissen, dass wir die Vergangenheit nicht ändern und die Zukunft nicht vorhersehen können, bleibt uns nur der Augenblick. Und da wir uns alle einig sind, dass wir das Leben schätzen sollten, müssen wir folglich jeden Augenblick schätzen.
Friedrich Nietzsche schrieb dazu in seinem Werk "Ecce homo":
"Meine Formel für die Grösse am Menschen ist amor fati: dass man nichts anderes haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in aller Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen - aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Nothwendigen -, sondern es lieben."
Denken Sie also darüber nach, was Alan Watts gesagt hat. Er schlussfolgert: "Aber wir haben den Sinn (des Lebens) die ganze Zeit über nicht verstanden. Es war eine musikalische Sache, und man sollte singen oder tanzen, während die Musik gespielt wird."
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