Glaub nicht alles, was du denkst - Warum Intelligenz uns nicht vor Irrtum schützt – und was wir dagegen tun können.
- Mathias Müller
- vor 7 Minuten
- 6 Min. Lesezeit

Ist dir auch schon mal aufgefallen, dass die meisten Menschen keine Ahnung zu haben scheinen, wie die Welt wirklich funktioniert? Dass sie voller Vorurteile sind, nicht hinterfragen – und sich trotzdem verdammt sicher fühlen?
Wenn es Dir schon so ergangen ist, dann kann ich Dich beruhigen: Du bist nicht allein! Denn alle denken das – über die anderen. Jeder hält sich für rational, für aufgeklärt, für objektiv. Aber wir alle – du, ich, selbst Professoren – leben oft mehr aus Glauben als aus Wissen. Und weisst du was noch? Intelligenz und Bildung schützen uns nicht davor. Im Gegenteil – manchmal machen sie es sogar schlimmer.
Wir sind voller Vorurteile. Und schlimmer noch – wir merken es nicht mal.
Auf die Idee zu dieser Folge kam ich, nachdem ich kürzlich wieder ein Buch von Will Storr gelesen habe. Ein Autor, den ich sehr schätze. Ich habe mehrere seiner Werke gelesen, und ich muss ehrlich sagen: Ich liebe seine Bücher.
Warum? Weil er ein unglaublicher Geschichtenerzähler ist. Weil er Wissenschaft mit Storytelling verbindet – und zwar auf eine Weise, die nicht nur lehrreich, sondern auch packend ist.
Eines seiner Bücher, das mir besonders hängen geblieben ist, trägt den Titel "Heretics - Adventures with the Enemies of Science“.
Es ist 2013 erschienen – und es ist heute aktueller denn je. Genau über dieses Buch spreche ich heute. Aber nicht als klassische Buchbesprechung, sondern über die Kernaussagen, über das, was wir daraus lernen können, und darüber, was es mit uns als Menschen macht.
Wie gesagt: Das Buch, auf das ich mich heute beziehe, stammt von Will Storr. Will Storr ist Journalist, Autor – und, wie es scheint, ein echter Ketzerjäger. Aber eben nicht so, wie man vielleicht denkt... Er jagt keine Menschen mit abweichenden Meinungen. Er jagt die Unbequemlichkeit in uns selbst. In „Heretics“ begleitet er radikale Außenseiter, Esoteriker, Holocaustleugner, UFO-Jünger und Wissenschaftler. Er spricht mit ihnen, versucht sie zu verstehen, ohne ihnen nach dem Mund zu reden. Dabei geht er nicht mit erhobenem Zeigefinger vor – sondern mit radikaler Neugier.
Das Buch ist kein lineares Sachbuch. Es ist eine Reise. Es führt dich in Gesprächsräume, Wohnzimmer, Labore, auf Demonstrationen, in persönliche Verwirrungen und in die Tiefen der Psychologie. Und irgendwann, mitten in dieser Reise, dämmerte es mir:
Dieses Buch handelt nicht von den Anderen. Es handelt von uns.
Fünf unbequeme Wahrheiten aus „Heretics“
Storrs zentrale Erkenntnis ist brutal einfach: Wir sind alle Ketzer. Aber eben nicht, weil wir Lügen verbreiten – sondern weil wir glauben, wir selbst seien keine.
Fünf Kernbotschaften:
1. Wir sind alle Ketzer.
Nicht nur die Spinner. Nicht nur die Querdenker, nicht nur die Religiösen oder Esoteriker. Nein – wir alle glauben, was wir glauben wollen. Die gefährlichste Illusion ist: „Ich bin objektiv. Ich folge nur den Fakten.“ Genau das denkt jeder. Auch der, der Unsinn glaubt. Und das macht die Sache so tückisch: Niemand hält sich selbst für irrational.
2. Das Selbst ist eine Fiktion.
Wir basteln täglich an einem inneren Narrativ, das uns als gute, vernünftige Menschen darstellt. Wir ignorieren, was nicht in unser Weltbild passt, verdrängen unangenehme Fragen, drehen uns unsere Motive schön. Wir alle leben in einem inneren Film – und sind blind für den Regisseur, der wir selbst sind.
Wie sagte Epiktet:
„Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben.“
Und Carl Jung ergänzte:
„Man wird nicht erleuchtet, indem man sich Lichtfiguren vorstellt, sondern indem man sich der Dunkelheit bewusst wird.“
Mit anderen Worten: Du willst die Wahrheit? Dann schau deinem Schatten ins Gesicht.
3. Intelligenz schützt nicht – sie bewaffnet den Irrtum.
Das ist die schmerzhafte Wahrheit, die ich nicht mehr aus dem Kopf kriege. Wer klug ist, ist nicht automatisch wahrheitsliebender. Er ist einfach nur besser darin, sein Weltbild zu verteidigen. Storr zitiert dazu kluge Köpfe wie:
Dan Kahan (Yale): der zeigte, dass kluge Leute Daten verzerren, wenn sie ihrer Meinung widersprechen.
Sozialpsychologe Keith Stanovich: nennt das myside bias – und sagt, dieser Bias ist besonders stark bei Intellektuellen.
Die Wahrheit ist bitter: Je klüger du bist, desto raffinierter ist deine Selbsttäuschung. Das ist die Intelligenzfalle.
Marc Aurel warnte einst:
„Der Stolz auf das eigene Verständnis ist die grösste Torheit.“
4. Glauben ist tribal – nicht rational.
Und hier kommt der Punkt, den wir viel zu oft unterschätzen: Menschen glauben, um dazuzugehören. Wir sind Herdentiere mit WiFi. Und unser Gehirn ist nicht auf Wahrheit getrimmt, sondern auf Stammesloyalität.
Storr zeigt eindrucksvoll: Ob Homöopathie, UFOs, Klimawandel oder politische Extreme – es geht nicht primär um Beweise. Es geht darum, wer wir sind, zu wem wir gehören, und wen wir nicht verraten wollen.
Wenn du deinen Stamm verlässt – deine Szene, deine politische Bubble – riskierst du Ablehnung, Ausschluss, Einsamkeit. Und genau deshalb glauben Menschen lieber Blödsinn gemeinsam, als Wahrheit alleine.
Das ist Tribalismus. Und er steckt in jedem von uns. In den Linken wie in den Rechten. In der Klimabewegung wie in der Impfgegner-Szene. Tribalismus ist nicht Ideologie – er ist unser archaisches Überlebensprogramm.
5. Menschen sind selten böse – sie irren aufrichtig.
David Irving, Holocaustleugner. Eine finstere Figur, klar. Aber Storr zeigt: Der Mann glaubt wirklich, was er sagt. Das macht ihn nicht harmlos – im Gegenteil. Aber es zeigt: Nicht jeder Irrsinn ist Lüge. Manchmal ist es Verblendung. Und genau deshalb ist moralische Überlegenheit so gefährlich. Wer glaubt, er sei „auf der richtigen Seite“, hört auf zu zweifeln – und fängt an, zu verfolgen.
Was ist während Corona passiert?
Dann kam 2020. Die Pandemie war der perfekte Sturm für alles, was Storr beschreibt.
Plötzlich wurde jede Entscheidung moralisiert.
Wer Fragen stellte, war ein Schwurbler.
Wer zu viel Vertrauen hatte, ein Duckmäuser.
Auf einmal waren die Dogmatiker überall – auf beiden Seiten. Die einen sagten: „Folge der Wissenschaft.“ Aber welche? Die anderen sagten: „Alles ist Lüge.“ Aber wo war ihre Alternative?
Auf einmal waren wir keine Bürger mehr, sondern Stämme mit Fahnen.Und die Wahrheit? Die ging unter in den Schlachtrufen.
Will Storr erzählt von einem Gespräch mit Lord Christopher Monckton, einstiger Politikberater von Margaret Thatcher und ein prominenter Klimawandel-Skeptiker. In der Debatte um Corona zeigte sich ein ähnliches Muster wie in der Klimadebatte: Bestimmte Überzeugungen wurden nicht mehr hinterfragt, sondern zum moralischen Dogma erhoben.
Auf einmal waren die alten „Heretics“ die neuen Gesetzgeber. Und wer wagte zu widersprechen, war ein Ketzer. Lockdowns. Reiseverbote. Kontaktverbote. Dies forderte Lord Monckton auch während der Aids-Krise in den 1980er Jahren und wurde dafür als Extremist angeschaut. Die einstigen Aussenseiter-Positionen von gestern wurden 2020 zur politischen Realität.
Die Frage ist nicht mehr: „Wer hat recht?“ Sondern: Darf man überhaupt noch Zweifel äussern?
Können wir unsere Voreingenommenheit je besiegen?
Jetzt kommt die grosse Frage. Können wir ausbrechen? Können wir lernen, wirklich offen zu sein?
Die ehrliche Antwort: Nein – nicht vollkommen. Aber das ist keine Kapitulation. Das ist der Anfang von Verantwortung. Denn wir können lernen, unsere Schwächen zu erkennen und dagegen zu handeln. Nicht, indem wir perfekt werden – sondern, indem wir mutiger, wachsamer, demütiger werden.
Fünf Wege, um der eigene Irrtumskompass zu werden
1. Langsamer denken.
Wenn du dir bei etwas zu 100 % sicher bist –dann ist es genau der Moment, langsamer zu werden.
Frag dich:
Warum glaube ich das?
Was würde meine Meinung ändern?
Könnte mein Gegner teilweise recht haben?
Stopp das Denken nicht – verlangsame es.
2. Rede mit allen – auch mit den falschen.
Einer der grössten Fehler unserer Zeit ist die „Kontaktschuld“. Ich selbst stand mal auf einer Bühne mit umstrittenen Menschen. Nicht, weil ich ihrer Meinung war – sondern weil ich glauben will, dass man mit jedem reden darf. Aber sofort kam die Keule: „Rechter! Sympathisant! Ketzer!“ Guilty by association. Ein Werkzeug der Feiglinge.
Wahre Stärke ist: Rede mit jedem. Fürchte keinen. Fürchte nur die eigene Feigheit.
3. Geh vom Guten im Menschen aus.
Ich glaube – und du solltest das auch –dass die meisten Menschen nicht aus Bosheit handeln, sondern aus Angst, Schmerz, Prägung, Loyalität. Wer verstehen will, muss zuhören. Nicht nur die Worte – sondern die Geschichte dahinter.
4. Lebe den Zweifel.
Sokrates sagte: „Ich weiss, dass ich nichts weiss.“ Tolstoi sagte: „Der Kluge weiss, dass er irren kann.“ Und ich sage: Nur wer zweifelt, kann lernen.
Politik, Wissenschaft, Führung – alles muss auf dem Satz gründen:
„Nach heutigem Wissensstand halten wir diesen Weg für den besten. Wenn wir irren, ändern wir ihn.“
Das ist nicht Schwäche. Das ist Größe.
5. Mach Wahrheit wichtiger als Stolz.
Der grösste Feind der Aufklärung war nie die Lüge –es war der Stolz.
Der Stolz, nicht falsch gelegen zu haben. Der Stolz, keine Fehler zugeben zu müssen. Die meisten Ideologien verrotten nicht durch Gewalt –sie verrotten durch Sturheit. Stolz ist eine Last. Wahrheit ist ein Kompass.
Was heisst das für uns?
Wir sind alle Ketzer. Wir sind alle Opfer unserer inneren Geschichten. Aber wir sind auch Menschen. Menschen mit Verstand, mit Herz, mit der Fähigkeit, über uns hinauszuwachsen.
Du willst kein Idiot sein? Dann sei bereit, der Idiot zu sein. Der, der sagt: „Vielleicht liege ich falsch.“ Der, der zuhört, bevor er verurteilt. Der, der die Hand ausstreckt – auch wenn der andere sie ausschlägt.
Und wenn dich jemand einen Ketzer nennt –dann lächle. Und sag: „Danke. Das ist mein Kompass.“
📚 Empfehlung
Will Storrs Buch „Heretics“ ist kein Wohlfühlbuch. Es ist ein Spiegel. Und ich kann euch nur raten: Lest es. Und dann schaut nicht weg. Denn am Ende, liebe Piraten –geht’s nicht darum, recht zu haben. Es geht darum, nicht blind zu bleiben. Und das, meine Freunde, ist der Anfang aller Freiheit.
Bis zum nächsten Mal. Und vergesst nicht: Wahrheit ist kein Besitz – sie ist ein Abenteuer.
Comments