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Wir brauchen Stoikerinnen in der Politik!



Die politisch motivierte Gewalt ist deutlich gestiegen. Darin spiegelt sich auch die wachsende Polarisierung der Gesellschaft wider. Was können wir gegen diese für eine demokratische und pluralistische Gesellschaft schädliche Entwicklung tun? Eine Lösung wäre: Mehr Stoizismus in der Politik!

Wir erleben eine zunehmende Polarisierung in unserer Gesellschaft. Je länger, je mehr öffnet sich ein Graben, welcher das Volk in zwei Lager teilt. Jedes Thema, sei es auch noch so trivial, wird heute politisiert. Wer meine Meinung in einer Sache nicht teilt, ist gegen mich, gehört also auf die andere Seite des Grabens. Auf der einen Seite des Grabens stehen die faulen und unmoralischen Linken, auf der anderen Seite die kleingeistigen und unehrlichen Rechten. Diese Vorurteile wurden übrigens durch eine PEW Untersuchung im Jahre 2016 herausgefunden[1] .Es wird verallgemeinert was das Zeugs hält.



Das neueste Beispiel für die Absurdität der gegenwärtigen Diskussionskultur ist die Reaktion auf das Aufheben der Maskentragpflicht für Geimpfte im Freien in den USA durch die Biden Administration. Es ist durchaus legitim, darüber zu diskutieren, ob Maskentragen aus wissenschaftlicher Sicht für geimpfte Personen Sinn macht oder nicht. Es ist auch legitim, wenn jemand aus Angst, sei diese Person nun geimpft oder nicht, freiwillig eine Maske trägt. Dass sich aber nun zahlreiche Menschen weigern die Maske im Freien abzulegen, um damit ihre politische Zugehörigkeit zu manifestieren, ist meines Erachtens grotesk. Man wolle schliesslich nicht aussehen wie ein Republikaner, deshalb werde die Maske weiterhin getragen, wurde vielfach auf den sozialen Medien verkündet. Die Maske wird nun also zum Zeichen der Stammeszugehörigkeit. Und genau das ist eines der wesentlichen Probleme der heutigen Zeit: Jede Handlung wird zu einem Zeichen der politischen Gruppenzugehörigkeit. All unser alltägliches Tun, unsere Art zu handeln, unsere Art zu kommunizieren, unser Geschmack, unsere Vorlieben, unsere Art zu leben werden einer politischen Gesinnung zugeordnet.

Um festzustellen, dass sich die Fronten verhärten, genügt ein Blick in die sozialen Medien, in die Online Kommentarspalten der Medienanbieter oder in die Diskussionssendungen im Fernsehen oder im Radio. Von Streitkultur, geschweige denn Diskussionskultur kann schon lange keine Rede mehr sein. Und immer gibt es nur schwarz oder weiss. Wer nicht bedingungslos meine Meinung teilt, gehört zu den Anderen, und wer zu den anderen gehört verliert jedes Menschenrecht. Er darf verleumdet und durch Rufmord hingerichtet werden. Fakten spielen dabei keine Rollen, alles was zählt ist, dass die andere Person eine abweichende Meinung vertritt.


Obwohl sich die heutige Generation als unheimlich tolerant, weltoffen und aufgeklärt, und moralisch all den vorherigen Generation weit überlegen, sind die aktuellen Auseinandersetzungen geprägt von Hass und Hetze. Die einen werden als Nazis beschimpft, die anderen als links-grün-versifft.


Der Grund für die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft liegt meines Erachtens weniger in der Natur des Menschen als vielmehr an den gesellschaftlichen Umständen. Einen wesentlichen Einfluss haben die sozialen Medien mit ihren Echokammern, aber auch die gewöhnlichen Medien, die durch ihre Angst fördernden Click-Bait-Strategie, ein völlig verzerrtes Bild der Realität wiedergeben. Verantwortlich sind aber auch jene Politikerinnen und Politiker, welche durch ihre Handlungen Öl ins Feuer giessen.


Politikerinnen und Politiker sind Vorbilder. Das Problem ist, dass sie in der Regel nicht besonders gute Vorbilder sind. Die heutige Politik erscheint für Aussenstehende äusserst emotional, irrational, effekthascherisch, ideologisch und zuweilen schrill. Konstruktive Kritik, der Wille zu gegenseitigem Verständnis, Anstand, Bescheidenheit und echte Leadership wurden ersetzt durch Beschimpfungen, gegenseitiges lächerlich machen, Ignoranz und Besserwisserei sowie Eitelkeit und Überheblichkeit. Man hat den Eindruck, dass man Pflichtgefühl und der Wille zu dienen bei zahlreichen Volksvertreterinnen vergebens sucht.


Die Frage ist nun, ob man diesen Zustand, der für eine pluralistische, demokratische Gesellschaft sicher nicht gesund ist, korrigieren kann.


Was braucht es nun, um diese Spaltung zu überwinden? Wie kommen wir wieder hin zu einer von Anstand geprägten Streitkultur? Und verstehen Sie mich nicht falsch, es geht nicht darum, dass unliebsame extreme Ideen verboten werden, oder sich alle irgendwo in der Mitte, wo auch immer diese liegt, finden müssen. Es geht darum, dass wir eine politische Kultur schaffen, in der alle Ideen und Meinungen Platz haben, in der man den gegenseitigen Willen hat, nach Wahrheit zu streben und im besten Sinne für die Gesellschaft zu handeln, eine Kultur, in der man bereit ist für seine Anliegen hart zu kämpfen, gleichzeitig aber auch in der Lage ist, sich als würdevoller Verlierer zu zeigen. Eine Kultur in der man seine Meinung vehement, wie ein Wissender vertritt, gleichzeitig den Andersdenken wie ein Lernender zuhört. Eine Kultur, in der ein Meinungswechsel nicht als Schwäche, sondern als Entwicklung anerkannt wird. Eine politische Kultur, in der das Dienen und nicht die persönliche Anspruchshaltung im Zentrum stehen.


Was wir dringend benötigen, sind stoische Politikerinnen. Keine Angst, der Stoizismus ist keine politische Ideologie. Der Stoizismus ist eigentlich mit fast allen politischen Gesinnungen vereinbar. Ausser wohl mit der nationalsozialistischen und den radikal kommunistischen Ideen. Der italienische Philosophie Professor Massimo Pigliucci vom New York College hat dazu einen weitreichenden Artikel auf seinem Blog geschrieben[2].


Für gewisse von Ihnen mag diese Forderung nach mehr Stoizismus in der Politik fast wie ein Widerspruch vorkommen. Stoiker sehen die Mässigung und die Weissheit als Kardinaltugenden, suchen nach innerer Ruhe und das tugendhafte Leben steht im Zentrum. Eigentlich alles Dinge, die nicht zum heutigen politischen Zirkus mit seinen überbordenden Emotionen, den überhasteten Entscheiden, dem Gezänke, der Mediengeilheit und der Besserwisserei passen.


Auch das Vorurteil, dass Stoiker keine Aktivisten seien, ist weit gefehlt. Weil die Stoiker die Ruhe schätzten und weil sie die Macht anderer Menschen zur Störung unserer Ruhe erkannten, könnten wir nun den Rückschluss ziehen, dass sie als eine Art Einsiedler gelebt haben und auch uns raten würden uns zurückzuziehen. Sie taten aber genau das nicht. Im Gegenteil sie engagierten sich, im vollen Wissen darum, dass dieses Engagement zum Teil Kummer bereitet, nervenaufreibend sein kann und eben die eigene innere Ruhe stören kann. Die Stoiker waren der Meinung, dass der Mensch von Natur aus, ein soziales Tier ist und dass wir daher die Pflicht haben, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen und zu pflegen, trotz der Schwierigkeiten, die sie uns bereiten könnten


Etliche Menschen, welche das Weltgeschehen verändert haben, waren Stoiker oder liessen sich durch die stoische Philosophie leiten. Hier einige Beispiele: Der römische Herrscher Mark Aurel, der römische Staatsmann Seneca, Cato der Jüngere, der prinzipienreue Widersacher von Cäsar und Verteidiger republikanischer Werte. George Washington, Toussaint Louverture, Anführer der Sklavenrevolution und Gründer von Haiti, Beatrice Webb, britische Sozialreformerin, Sozialistin und Erfinderin der Tarifverhandlungen aus dem 19. Jahrhundert, Thomas Wentworth Higgins, militanter Gegner der Sklaverei, Theologe und Oberst und Kommandant des ersten rein aus schwarzen bestehenden Regiments im amerikanischen Bürgerkrieg, Theodore Roosevelt, Thomas Jefferson, Wen Jibao – der ehemalige chinesische Premierminister hat nach eigenen Angaben Mark Aurels «Mediationen» über einhundert Mal gelesen - oder James Mattis, ehemaliger General der US Marines und Verteidigungsminister unter Trump. All diese Leute hätten ein bedeutend ruhigeres Leben gehabt, hätten sie sich dafür entschieden ihren Alltag mit dem Studium von Büchern zu verbringen, statt gegen den Strom zu schwimmen und sich zu exponieren.


Die Stoiker sehen es als ihre Pflicht an, der Gesellschaft zu dienen. Unsere soziale Pflicht ist es, gemäss Mark Aurel, Anteilnahme an der gesamten Menschheit zu empfinden, zusammenzuarbeiten und einander zu helfen. "Denn alles, was ich tue", sagt Mark Aurel, "sollte auf dieses eine Ziel gerichtet sein, den gemeinsamen Nutzen und die Harmonie." Wir können unser höchstes Selbst nicht zum Ausdruck bringen, ohne gleichzeitig zum Gemeinwohl beizutragen. Wenn wir das Beste in uns selbst suchen, werden wir uns aktiv um das Wohlergehen aller anderen Menschen kümmern. Das Beste für andere wird auch das Beste für einen selbst sein."


Stellen Sie sich einmal vor, wie es wäre, wenn wir mehr Politikerinnen hätten, welche die folgenden stoischen Ratschläge befolgen würden.


  1. Weniger Emotionen

Der römische Kaiser Mark Aurel, war überzeugt davon, dass emotionale Reaktionen auf einen Gegner ein Zeichen von Schwäche sind; wütend zu werden bedeutet, ein Sklave der Emotionen zu sein und dabei seine Logik aufzugeben. Wer sich also durch seinen Gegner wütend machen lässt, hat bereits verloren, weil er seinen Verstand für seine Emotionen aufgibt.


Stattdessen sollte man sich die Zeit nehmen, Problemen und Widersprüchen logisch und mit einem klaren Verstand zu begegnen. Wut und Hass gegenüber den Ideen eines politischen Gegners trägt gar nichts dazu bei, die möglichen Schwächen in dessen Argumentation aufzuzeigen und noch weniger, die Überlegenheit der eigenen zu demonstrieren. Wer gegenüber anderen Meinungen, gegenüber Opposition ruhig und kontrolliert bleiben kann, der hat auch die nötige Kraft, die Situation zu ändern, sei es, indem man die Meinung des Gegners ändert oder indem man selbst ein tieferes Verständnis für das Thema erlangt und eventuell sogar seine eigene Meinung anpasst.


Mitglieder von Gruppen, die versuchen, Andersdenkende durch Gewalt, Einschüchterung oder Angstmacherei oder Drohungen zum Schweigen zu bringen, sollten diese Lektion lernen; eine emotionale Überreaktion zeigt, ist ein Zeichen der Schwäche und ein Zeichen dafür, dass die eigene Argumentationslinie auf keinem soliden Fundament steht. Wer jeden andersdenkenden als Nazi oder Kommunisten Pack betitelt, hat eigentlich schon verloren.


Zu wissen, wann es Zeit zum Sprechen und wann zum Schweigen ist

Eine weitere stoische Maxime, deren Befolgung sich in der Politik als sehr wertvoll erweisen würde, ist Zenos Rat, zu wissen, wann man sprechen und wann man schweigen sollte. "Es ist besser, mit den Füssen zu stolpern als mit der Zunge", sagte der Stoiker Zeno. Wäre die Welt nicht ein besserer Ort, wenn Politikerinnen wüssten, wann sie ihre Gedanken für sich behalten sollten? Viel zu oft meinen Politikerinnen zu allem und jedem etwas sagen zu müssen. Wann haben wir mal eine Politikerin gehört eine Frage mit einem bescheidenen: «Das weiss ich nicht» zu beantworten? Stattdessen wird mit viel Selbstüberzeugung irgendeine nichtssagende Floskel von sich gegeben.


Zuhören

Der stoische Philosoph und ehemalige Sklave Epiktet, gab uns den Ratschlag, so viel wie möglich zu lernen, bevor man seine eigene Meinung kundtut. Es geht darum sich möglichst viele Argumente anzuhören und seine eigene Meinung immer wieder kritisch zu hinterfragen, nur wer das tut, kann nachhaltig zu einer fruchtvollen Debatte beitragen.


Gerade im Zeitalter der «Safe Space», der «politischen Korrektheit», der «Cancel Culture» und Echokammern, ist dieser Rat von Epiktet besonders wichtig. Wie viele von uns beschränken ihre Wissensaufnahme auf jene Ideen, mit denen wir bereits übereinstimmen. Wir schauen jene Videos, lesen jene Bücher und Zeitungen und hören jenen Rednerinnen zu, die uns in unserer Meinung bestätigen. Die Andersdenkenden werden ausgeblendet oder noch schlimmer gleich verboten.


Wenn wir lernen, so vielen anderen Ideen wie möglich zuzuhören, bevor wir uns unsere eigenen bilden, können wir uns aus den Online-Echokammern befreien und das Stammesdenken mit einem ausgewogenen, kritischen Denken ersetzen. Wie Epiktet selbst sagte: "Es ist unmöglich für einen Menschen zu lernen, was er glaubt, bereits zu wissen."


Sich nicht zu wichtig nehmen

Wenn man den Politikerinnen zuhört, kommt man nicht umhin das Gefühl zu haben, dass sie sich selber unheimlich wichtig nehmen. Mit dem Erfolg so wächst auch das Ego. Viele Politikerinnen haben das Gefühl, dass eine Wahl die Bestätigung für ihre einzigartige Grossartigkeit sei. Sie vergessen, dass eine Wahl auch zu einem nicht unwesentlichen Teil von Glück und Zufall abhängt. Eine aktuelle gesellschaftliche Herausforderung kann ein Wahlergebnis massiv beeinflussen. Als Beispiel der Fukushima Effekt. Es spielen aber auch andere Faktoren eine Rolle: das Aussehen, die zur Verfügung stehenden Ressourcen, das Geschlecht, der Listenplatz, die Medienberichterstattung u.s.w.


Damit er durch die Herausforderungen, die ihm das Leben stellte nicht überwältigt wurde, und damit er sich nicht zu wichtig nahm, praktizierte der römische Kaiser Mark Aurel eine Übung, die man als «den Blick von oben» bezeichnen kann. Diese Übung dient dazu, uns daran zu erinnern, wie klein wir wirklich sind, und wie unwichtig die meisten Dinge sind.


Die Übung hilft uns eine andere Perspektive einzunehmen und ein Gefühl für das grosse Ganze zu entwickeln. Mittels unserer Vorstellungskraft treten wir einen Schritt zurück und zoomen uns aus dem hier und jetzt und versuchen das Leben von einem höheren Aussichtspunkt als unserem eigenen zu betrachten.


Diese Übung - sich all die Millionen und Abermillionen von Menschen vorzustellen, die gerade jetzt irgendwo auf der Welt leben; sich all die Mütter, Handwerker, Politikerinnen, Soldaten, Anwälte, Journalistinnen, all die Geburten, Hochzeiten, Scheidungen, all die lachenden, weinenden, leidenden, sich freuenden Menschen, all die Häuser, Bauernhöfe, Fabriken u.s.w. vorzustellen, zwingt uns, eine andere Perspektive einzunehmen und erinnert uns daran, wie klein wir eigentlich sind, wie sterblich wir sind.


Es ist nicht so, dass die Stoiker der Meinung waren, dass wir bedeutungslos sind, im Gegenteil, sie glaubten daran, dass jeder Mensch bedeutungs- und würdevoll ist, weil in jedem Menschen auch Göttlichkeit steckt. Es geht den Stoikern darum, das Ganze in das richtige Licht zu rücken. PolitikerInnen sind weder in Raum noch Zeit das Zentrum des Universums. Auch der amerikanische Präsident nicht.


Der berühmte amerikanische Autor und Stoiker Ryan Holiday schreibt der Übung «Blick von oben» noch einen weiteren positiven Effekt zu. «Der zweite, subtilere Aspekt ist, zu erkennen, was die Stoiker Sympatheia nennen, oder eine gegenseitige Abhängigkeit mit der gesamten Menschheit.»


Wäre es nicht toll, wenn die Politikerinnen erkennen würden, dass sie sich nicht derart wichtig nehmen sollten und dass wir, egal welcher Herkunft, welcher politischen Gesinnung, welcher Bildung, welchen Geschlechts, welchen Alters u.s.w. in gegenseitiger Abhängigkeit stehen und es viel besser wäre Gräben zuzuschütten, als diese durch selbstherrliches, polarisierendes Getue noch aufzureissen.


Also, wenn Sie der stoischen Philosophie angetan sind, dann fangen sie ernsthaft an darüber nachzudenken, ob Sie sich nicht politisch engagieren wollen. Die Politik, unsere Gesellschaft braucht gerade heute Menschen, die sich engagieren, weil sie der Gesellschaft dienen und nicht, weil sie sich verwirklichen wollen.


Und wenn Sie bereits Politikerin sind, dann fangen Sie an die Stoiker zu lesen. Am besten beginnen Sie mit Mark Aurels «Selbstbetrachtungen».



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