Warum Sinn fehlt - und wie echte Führung ihn zurückbringt
- Mathias Müller
- vor 4 Stunden
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Ich habe in den letzten Tagen wieder einmal ein Buch gelesen – von Viktor E. Frankl, dem Mann, der das Konzentrationslager überlebt hat und später die Logotherapie entwickelt hat, also die Lehre vom Sinn. Das Buch heisst "Sinn, Freiheit und Verantwortung", eine Sammlung von alten Essays und Vorträgen, die man erst nach seinem Tod veröffentlicht hat.
Und da bin ich auf etwas gestossen, das ich sehr spannend finde. Eine Erkenntnis, die für uns als Individuen, für unsere Gesellschaft und auch im Zusammenhang mit Leadership von grosser Bedeutung ist.
Frankl sagt: Wenn ein Mensch keine Bedeutsamkeit und keine Verbundenheit mehr spürt, dann wird er krank. Nicht körperlich krank, sondern seelisch.
Und ich habe mir gedacht – ja, verdammt, genau das ist es. Das ist das, was heute so viele Menschen quält. Vielleicht dich. Vielleicht jemanden, den du kennst. Vielleicht auch mich selbst in gewissen Momenten.
Hast du dich schon einmal gefragt, ob du wirklich gebraucht wirst? Ob du irgendwo einen Unterschied machst? Ob jemand merken würde, wenn du einfach nicht mehr da wärst? Das ist Bedeutsamkeit. Das ist der Sinn, den Frankl meint – das Gefühl: Ich bin nicht umsonst hier. Und wenn du dieses Gefühl verlierst, frisst dich das innerlich auf. Der Mensch braucht Bedeutung – ohne sie verdorrt er.
Wir leben heute in einer Welt, in der viele Menschen zwar beschäftigt sind, aber nicht bedeutsam. Sie laufen im Hamsterrad, werden bewertet, ersetzt, übersehen. Eine der schlimmsten Strafen, die es gibt, ist, ignoriert zu werden. Denn Hass kann man ertragen – Gleichgültigkeit frisst dich auf.
Das zweite Grundbedürfnis ist Verbundenheit. Verbundenheit heisst: Ich gehöre zu etwas. Ich bin nicht allein. Ich habe Kameraden, Familie, Freunde, einen Glauben oder eine Aufgabe, die grösser ist als ich selbst.
Doch viele Menschen heute fühlen genau das Gegenteil. Sie sind frei – aber allein. Unabhängig – aber leer. Sie haben tausend Kontakte im Handy, aber keinen, den sie wirklich anrufen würden, wenn’s ernst wird.
Frankl nannte das die existentielle Leere – ein Loch in der Seele. Und das füllt sich nicht von selbst.
Die Menschen versuchen es mit Arbeit, Alkohol, Ablenkung, Dopamin – oder mit Empörung. Empörung ist die Droge der Sinnlosen. Denn wer sich aufregt, ist wenigstens jemand. So entstehen Bewegungen, die nicht politisch, sondern emotional sind. In solchen Zeiten taucht immer dieselbe Versuchung auf: Ideologien, die sagen: Du bist nicht allein. Wir sind viele. Du bist wichtig, weil du uns dienst.
Ob Nationalsozialismus, Kommunismus oder Sozialismus – immer dieselbe Melodie: Das Kollektiv ist alles, das Individuum ist nichts. Und wer sich unbedeutend fühlt, hört das und denkt: Endlich bin ich Teil von etwas.
Heute sehen wir dieselbe Dynamik im Aktivismus. Menschen kleben sich auf die Strasse, kämpfen gegen das Klima, gegen das System, gegen die Ungerechtigkeit – oder für Palästina. Aber komischerweise nicht für die Christen in Nigeria, nicht für die Uiguren in China, nicht für die Frauen im Iran. Diese selektive Empörung zeigt: Es geht oft weniger um die Sache als um das eigene Gefühl, gebraucht zu werden. Um moralische Selbstbestätigung statt echtes Engagement.
Die moderne Psychologie bestätigt Frankl. In der Selbstbestimmungstheorie heisst es, der Mensch braucht drei Dinge: Autonomie, Kompetenz und Verbundenheit.
Fehlt eines davon, entsteht Stress. Fehlen zwei, wird der Mensch zynisch. Fehlen alle drei, fällt er auseinander. Wir haben Wohlstand und Freiheiten – aber kaum noch Sinn. Wir feiern das Ich und vergessen das Wir.
Aber es gibt einen anderen Weg – einen härteren, aber echten.
Frag dich: Wofür bin ich verantwortlich? Für wen werde ich gebraucht? Was liegt in meinem Einflussbereich – und was nicht? Freiheit beginnt dort, wo du aufhörst, dich über das zu beklagen, was du nicht ändern kannst, und anfängst, das zu verändern, was du kannst.
Dann handle. Mach etwas, das Bedeutung hat – nicht, weil andere es feiern, sondern weil du weisst, dass es richtig ist. Mach Freiwilligenarbeit. Hilf in der Gassenküche. Arbeite beim Tierschutz. Begleite ältere Menschen. Trainiere Kinder in einem Verein. Pflanze Bäume. Tu etwas Echtes.
Frankl sagte: Sinn kann nicht gegeben, nur gefunden werden. Er entsteht nicht durch Ideologien oder Gesellschaft, sondern durch dich. Du gibst deinem Leben Sinn, indem du handelst, dienst, liebst und kämpfst – für das, was du als richtig erkannt hast. Nicht im Opfersein, sondern in der Entscheidung, trotz allem Mensch zu bleiben.
Ein Wort an alle, die führen – im Beruf, in der Familie, in der Schule.
Führung bedeutet, anderen Sinn zu ermöglichen: Autonomie geben, Vertrauen statt Kontrolle. Kompetenz fördern, Wissen teilen, Verantwortung übertragen. Verbundenheit schaffen, echtes Interesse zeigen.
Freiheit ist kein Risiko, sie ist der Sauerstoff der Seele. Lass Kinder Fehler machen – Nicht weil es dir egal ist, sondern weil du an ihre Stärke glaubst – aus Liebe.
Verbundenheit ist keine Holschuld, sondern eine Bringschuld. Wenn alle nur nehmen wollen, bleibt am Ende niemand verbunden. Gib zuerst. Interessiere dich für die Menschen um dich.
Hör auf, dich klein zu machen. Hör auf, darauf zu warten, dass dich jemand rettet. Werde wieder Mensch.
Suche den Sinn nicht in Parolen oder Likes. Suche ihn in Verantwortung – für dich, für andere, für die Welt um dich herum.
Du kannst nicht die Welt retten, aber du kannst einen Menschen ermutigen. Du kannst nicht alles kontrollieren, aber du kannst Verantwortung übernehmen, wo du stehst. Wenn du dich bedeutungslos fühlst, tu etwas Sinnvolles. Hilf jemandem. Lerne etwas Neues. Baue etwas auf. Geh schlafen mit dem Gedanken: Heute habe ich etwas Kleines besser gemacht.
So beginnt Sinn. So beginnt Verbundenheit. So entsteht Bedeutsamkeit.
Mach dein Leben bedeutsam. Warte nicht auf den Sinn – gib ihn dir selbst. Warte nicht auf Verbundenheit – baue sie. Warte nicht auf Anerkennung – gib sie anderen. Und wenn dich jemand fragt, was du im Leben suchst, dann sag: Nicht nur Glück. Nicht nur Erfolg. Sondern Glück durch Sinn – und Sinn, den du dir selbst gibst.



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