Das Gift der Selbstgerechtigkeit – und sechs Wege, es zu entgiften
- Mathias Müller
- 5. Okt.
- 5 Min. Lesezeit
Warum wir glauben, die Guten zu sein – und wie wir lernen können, das Böse im Anderen zu überwinden. In der 172. Folge des Podcasts *Der Stoische Pirat* geht es um Psychologie – genauer gesagt um ein Phänomen, das kompliziert klingt, aber unser tägliches Leben prägt. Ein Phänomen, das unser Denken vergiftet, Dialoge zerstört, Freundschaften zerreisst und Demokratien untergräbt – ohne dass wir es bewusst wahrnehmen. Es trägt den Namen "Motiv-Attributions-Asymmetrie". Klingt sperrig, ist aber hochgradig alltagsnah – und gefährlich. Denn es vergiftet unsere Gesellschaft.
Wir alle halten uns für die Guten
Wir glauben, dass unsere Motive rein sind – aus Liebe, Fürsorge, Verantwortung.
Doch die anderen, die anders denken? Denen unterstellen wir Bosheit, Hass, Niedertracht.
Und genau hier liegt der Sprengstoff:
Sobald ich den anderen nicht mehr für einen Irrenden halte, sondern für einen Bösen – ist der Dialog beendet.
Das Paradoxe: Jeder Mensch glaubt von sich, aus guten Motiven zu handeln – selbst der Dieb, der für seine hungernde Familie stiehlt, oder der Betrüger, der sagt, er gleiche nur aus. Selbst der Diktator behauptet, er handle „für das Volk“. Jeder rechtfertigt sein Handeln – selbst wenn es objektiv falsch ist – und glaubt gleichzeitig, der andere handle aus Bosheit.
Das Ergebnis: Jeder hält sich für gut, aber jeder glaubt, es gebe die bösen anderen
Wenn gute Absichten falsch gehört werden
Viele kennen das im Alltag: Man sagt etwas in guter Absicht – doch das Gegenüber hört etwas anderes. Die Stimmung kippt, weil plötzlich Bosheit unterstellt wird. Genau das ist Motiv-Attributions-Asymmetrie in Reinform.
2014 untersuchten die Psychologen Adam Waytz, Liane Young und Jeremy Ginges dieses Phänomen. Fast 3.000 Menschen nahmen teil – Demokraten und Republikaner in den USA, Palästinenser und Israelis im Nahen Osten.
Das Ergebnis:
Jede Gruppe hielt sich selbst für liebevoll motiviert – und die andere Seite für hasserfüllt. Besonders stark ausgeprägt war das bei Demokraten und Palästinensern, moderater bei Republikanern und Israelis.
Und je stärker man sich moralisch überlegen fühlte, desto weniger traute man dem Gegner gute Motive zu.
Das Gift der moralischen Überlegenheit
Hier liegt der Kern des Problems. Die Forschung zeigt: Besonders linke, progressive oder sozialistische Strömungen sind anfälliger – weil ihre Identität stark auf Moral gründet.
„Wir sind die Guten. Wir stehen auf der richtigen Seite der Geschichte.“ Das klingt edel, ist aber brandgefährlich. Denn wer sich moralisch erhaben fühlt, betrachtet den anderen nicht mehr als Irrenden – sondern als Feind.
Und mit Feinden redet man nicht. Feinde werden umerzogen, bekämpft, zum Schweigen gebracht.
So kippen linke Ideologien – mit Ausnahme des Anarchismus – zwangsläufig in Autoritarismus.
Denn wenn nur meine Moral zählt, sind alle anderen unmoralisch. Und wer unmoralisch ist, verliert sein Recht auf Rede, auf Teilnahme, auf Freiheit.
Das ist der gefährlichste Reflex der Gegenwart:
Nicht überzeugen – sondern umerziehen.
Nicht widersprechen – sondern löschen.
Nicht argumentieren – sondern stigmatisieren.
Geschichte als Warnung
Diese Mechanismen sind nicht theoretisch – sie sind blutig belegt.
Stalin: Was als Revolution begann, endete in einem Gulag-System. Millionen Menschen wurden wegen angeblich „feindlicher Motive“ inhaftiert, verbannt oder getötet.
Mao: Die Kulturrevolution sollte die Gesellschaft reinigen, doch sie mündete in Denunziation, Strafaktionen und Massenkampagnen – alles im Namen der „guten Motive“.
Castro: Aus dem Versprechen von Demokratie und Gerechtigkeit wurde eine autokratische Machtstruktur, die abweichende Meinungen als Subversion behandelte.
Diese Beispiele zeigen: Wer sich moralisch legitimiert und Macht hat, wird leicht autoritär – im Namen des Guten.
Aber auch unabhängig von Ideologie gilt: Macht korrumpiert. Wer Macht hat, will sie behalten. Und je länger jemand sie hält, desto grösser wird die Versuchung, sie mit autoritären Mitteln zu sichern.
Napoleon brachte Ordnung und Reformen – und krönte sich selbst zum Kaiser.
Cromwell kämpfte gegen die Willkür des Königs – und endete selbst als autokratischer Lord Protector.
Das Muster ist stets dasselbe: **Moralische Selbstgewissheit plus Macht ergibt Autoritarismus.**
Der Kompass des Liberalismus
Hier liegt die Stärke des klassischen Liberalismus – oder Libertarismus.
Er baut auf Vertrauen: in den Einzelnen, in seine Urteilskraft, in seine Freiheit. Ein echter Liberaler sagt nicht: „Du musst so denken wie ich.“ Er sagt: „Ich halte dich für vernunftbegabt. Geh deinen Weg. Solange du mir nicht schadest, verteidige ich dein Recht, anders zu leben.“ Das ist Grösse. Und das ist Demut. Denn wer freiheitlich denkt, weiss: Ich könnte mich irren. Und der andere hat das gleiche Recht auf Irrtum wie ich.
Darum ist der Liberalismus der beste Schutz gegen die Motiv-Attributions-Asymmetrie – gegen das automatische Misstrauen gegenüber Andersdenkenden.
Ein autoritärer Mensch sagt: „Nur meine Wahrheit zählt.“
Ein freiheitlicher Mensch sagt: „Wahrheit entsteht im Streit der Ideen.“
John Stuart Mill schrieb 1859:
„Wenn alle Menschen einer Meinung wären, ausser einem einzigen, dann wäre die Menschheit nicht berechtigt, diesen einen zum Schweigen zu bringen.“
Das ist kein politisches Statement – das ist ein moralischer Kompass.
Der gefährliche Reflex der Selbstgerechtigkeit
Doch auch Liberale sind nicht immun. Sobald sie ihre Position moralisch aufladen, kippen sie in denselben Reflex: Selbstgerechtigkeit. Und Selbstgerechtigkeit verwandelt Verteidiger der Freiheit in die ersten Zensoren.
Warum ist das so gefährlich?
Weil Selbstgerechtigkeit Verachtung erzeugt – die schärfste Klinge zwischen Menschen. Arthur Brooks nannte sie „eine giftige Mischung aus Wut und Ekel“. Schopenhauer sprach von der „Überzeugung vom Wertlossein des anderen“.
Wenn wir Menschen für wertlos erklären, fallen alle Schranken. Dann werden Rechte ausgehebelt. Dann folgt Ausgrenzung, Gewalt, Unterdrückung.
Der Ausweg: Stoische Haltung und Selbstprüfung
Hier hilft eine stoische Haltung:
Nicht klagen über den Sturm, sondern fragen – was liegt in meiner Macht?
Ein Beispiel liefert Megan Phelps-Roper, die ehemalige Aktivistin der radikal-hasspredigenden Westboro Baptist Church. Sie glaubte, sie tue Gottes Werk – bis sie sich löste und heute für Dialog und Menschlichkeit kämpft.
Ihr Wandel zeigt: Wer tief im Fanatismus steckt, kann sich ändern. Und sie formulierte sechs Fragen, die uns helfen, aus dem Denkgefängnis zu entkommen:
1. Bin ich offen für Zweifel?
Wenn du in einer Diskussion sofort wütend wirst, atme. Schreib nicht zurück. Sag: „Ich könnte mich irren.“
2. Was müsste passieren, damit ich meine Meinung ändere?
Bestimme klare Kriterien. Sag nicht „nie“, sondern: „Wenn X passiert, denke ich um.“
3. Kann ich die Position des anderen so wiedergeben, dass er sagt: ‚Ja, genau so meine ich’s‘?
Wenn ja, beginnt echter Dialog.
4.Greife ich die Idee an – oder den Menschen?
Ersetze „Du bist falsch“ durch „Diese These halte ich für problematisch, weil…“.
5. *Beende ich Beziehungen wegen Meinungsunterschieden?
Unterscheide zwischen echter Verletzung und blosser Differenz.
6. Bin ich bereit, zu extremen Mitteln zu greifen?
Prüfe: Würde ich dieselben Mittel akzeptieren, wenn die Rollen vertauscht wären?
Sechs Wege, wie wir das Gift der Selbstgerechtigkeit überwinden können
1. Zweifel kultivieren.
Sag nicht: „Ich weiss“, sondern: „Ich glaube – und ich könnte mich irren.“
Das öffnet Raum für Dialog und schützt vor moralischem Hochmut.
2. Bedingungen fürs Umdenken festlegen.
Überlege dir: *Was müsste passieren, damit ich meine Meinung ändere?*
Wer diese Frage beantworten kann, bleibt lernfähig.
3. Verstehen statt verurteilen.
Versuche, die Position des anderen so wiederzugeben, dass er sagen würde: „Ja, genau das meine ich.“
Erst wer verstanden hat, darf widersprechen.
4. Ideen angreifen – nicht Menschen.
Kritik an Argumenten hält den Diskurs lebendig. Persönliche Angriffe töten ihn.
5. Verbindungen halten.
Beende keine Beziehungen wegen politischer Differenzen. Freundschaft und Familie wiegen mehr als Ideologie.
6. Vom Guten ausgehen.
Unterstelle keine Bosheit, wo Unwissen, Angst oder Verletzung genügen.
Das ist keine Naivität – es ist Zivilisation.
Freiheit gegen Zwang, Demut gegen Dogma
Am Ende geht es nicht um Links oder Rechts.
Nicht um Gut oder Böse.
Sondern um Freiheit gegen Zwang, Demut gegen Arroganz, Zweifel gegen Dogma.
Jeder Mensch glaubt, er sei gut – und die anderen seien böse.
Das Paradox löst sich erst, wenn wir begreifen: Auch der andere glaubt, er sei gut.
Das ist die Brücke zur Menschlichkeit.
Fazit
Am Ende bleibt die Wahl:
Verachtung oder Haltung.
Arroganz oder Menschlichkeit.
Denkfaulheit oder kritische Redlichkeit.
Darum lasst uns das verinnerlichen:
Ich prüfe mein Urteil, bevor ich verurteile.
Ich lasse Zweifel zu, wo andere nur glauben.
Ich höre zu, bevor ich abwerte.
Ich bekämpfe Ideen, nicht Menschen.
Und ich gehe vom Guten im Anderen aus – bis das Gegenteil bewiesen ist.
Das ist keine Schwäche. Das ist Mut. Und das ist menschlich



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