Antizionismus: Herkunft, Bedeutung und Missverständnisse
- Mathias Müller
- vor 2 Tagen
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Antizionismus gilt heute vielen als moralische Haltung. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt: Der Begriff ist kein neutraler Ausdruck politischer Kritik, sondern entstand als ideologischer Kampfbegriff. Wer verstehen will, warum Antizionismus so oft in Antisemitismus kippt, muss seine historischen, theologischen und politischen Ursprünge kennen – von der christlichen Frühzeit über Karl Marx bis zur Sowjetunion.
Eine alltägliche Szene – und ein Symptom
Nach dem Anschlag am Bondi Beach/Australiensagte mir ein Mann etwas. Kein Fanatiker. Kein schriller Aktivist. Ein vernünftiger Mensch, gebildet, im Leben stehend.
Er sagte:„Natürlich verabscheue ich solche Attentate. Ich bin ganz sicher kein Judenfeind. Aber diese Zionisten – die sind gefährlich.“
Als ich ihn fragte, was er mit Zionisten meine, kam keine klare Antwort. Es folgte ein Nebel aus Schlagworten: Nationalisten, Verschwörungen, Macht, Weltbeherrschung.
Genau hier beginnt das Problem.
Antizionismus – ein politischer Kampfbegriff
Viele Menschen verwenden heute den Begriff Antizionismus, ohne zu wissen, woher er stammt und welche ideologische Geschichte er trägt.
Antizionismus ist kein neutraler Begriff. Er ist ein politischer Kampfbegriff des 20. Jahrhunderts.
Er entsteht vor allem im Umfeld von Marxismus, Kommunismus und Sozialismus – als bewusste Umdeutung von Judenfeindschaft in scheinbar legitime Ideologiekritik.
Um das zu verstehen, muss man jedoch zuerst klären, was Zionismus überhaupt ist.
Was Zionismus ist – und was nicht
Zionismus ist keine Ideologie der Herrschaft. Kein Plan zur Unterdrückung anderer. Keine geheime Machtstruktur.
Zionismus ist eine nüchterne Idee: Dass das jüdische Volk – wie jedes andere Volk auch – das Recht auf ein eigenes Zuhause hat.
Nicht mehr. Nicht weniger.
Diese Idee entstand nicht aus Macht, sondern aus Ausschluss.
Juden in Europa: geduldet, aber nie integriert
Eine historische Wahrheit zieht sich durch die Jahrhunderte: Juden waren in Europa fast nie wirklich erwünscht.
Schon früh wurde signalisiert: Ihr dürft hier leben – aber nicht dazugehören.
Im 4. Jahrhundert formulierte Augustinus von Hippo eine Haltung, die für Jahrhunderte prägend wurde. Juden sollten nicht getötet werden, aber auch nicht Teil der christlichen Gemeinschaft sein. Ihre Zerstreuung unter den Völkern sei gewollt – nicht aus Liebe, sondern als Duldung. Sie sollten leben, aber ohne Macht, anwesend, aber nicht integriert.[¹]
Das war keine Anerkennung. Es war Bequemlichkeit.
Ökonomische Ausgrenzung und Neid
Diese Ausgrenzung hatte konkrete Folgen:
Juden durften vielerorts kein Land besitzen
sie konnten keine Bauern sein
sie waren aus Zünften ausgeschlossen
zahlreiche Berufe waren ihnen verboten
Was blieb, waren Handel, Geldverleih und Finanzdienstleistungen – nicht aus Neigung, sondern aus Zwang.
Darin wurden sie gut. Sehr gut.
Und daraus entstand, was wir bis heute kennen: Neid.
Wenn Juden erfolgreich waren, wurden sie beneidet.Wenn sie arm waren, verachtet.Sie konnten es niemandem recht machen.
Dieses Muster wiederholte sich über Jahrhunderte: Kreuzzüge, Pestpogrome, Vertreibungen aus England, Frankreich, Spanien und zahllosen Städten Mitteleuropas.
Territorialideen – Juden „loswerden“, nicht befreien
Die Idee eines jüdischen Territoriums entstand daher nicht primär aus Mitgefühl, sondern aus dem Wunsch, Juden loszuwerden.
Europa wollte sie nicht integrieren. Man wollte sie entfernen.
Deshalb entstehen im 19. Jahrhundert verschiedene „territoriale Lösungen“ – nicht aus jüdischer Macht, sondern aus europäischer Bequemlichkeit.
Theodor Herzl und der politische Zionismus
Hier tritt Theodor Herzl auf.
Herzl war kein religiöser Fanatiker und kein nationalistischer Hardliner. Er war ein säkularer, assimilierter Jude, Journalist, Europäer.
Er glaubte an Integration – bis die Realität (etwa die Dreyfus-Affäre) zeigte: Nicht das Verhalten der Juden ist das Problem, sondern der Hass auf sie.
1896 formuliert Herzl seine Erkenntnisse in Der Judenstaat. 1897 folgt der Zionistische Kongress in Basel.
Zionismus ist bei Herzl keine Machtideologie, sondern eine Notlösung.
Erst nach der Shoah – nach sechs Millionen ermordeten Juden – wird aus dieser Notlösung eine Überlebensnotwendigkeit.
Israel entsteht nicht aus imperialer Gier, sondern aus einer bitteren Erkenntnis: Juden sind in der Diaspora nie wirklich sicher.
Karl Marx – der ideologische Schlüssel
Um den modernen Antizionismus zu verstehen, ist Karl Marx zentral.
Marx ist keine Randfigur. Er ist der Schlüssel.
1844 verfasst Marx Zur Judenfrage. Und was dort steht, ist eindeutig.
Er schreibt:
„Der weltliche Gott des Juden ist das Geld.“[²]
„Das Geld ist der eifersüchtige Gott Israels, vor welchem kein anderer Gott bestehen darf.“[³]
Und der zentrale Satz:
„Die Emanzipation der Menschheit vom Judentum ist die Emanzipation vom Geld und Schacher.“[⁴]
Marx kritisiert nicht einfach den Kapitalismus.Er ethnisiert ihn.
Ein ökonomisches Systemproblem wird einer konkreten Gruppe zugeschrieben.
Nicht: Menschen können gierig sein.Sondern: Das Judentum ist das Prinzip der Gier.
Damit entsteht der klassische Sündenbockmechanismus.
Antiliberalismus als gemeinsamer Nenner
Diese Logik ist nicht links oder rechts.Sie ist vor allem antiliberal.
Deshalb findet man sie auch im Nationalsozialismus.
Die Nazis hassten:
liberalen Kapitalismus
freien Markt
Individualismus
bürgerliche Gesellschaft
Sie sprachen vom „raffenden Kapital“ und der „jüdischen Finanzmacht“.
Nicht, weil Marx und Hitler identisch wären, sondern weil Sozialismus – ob international oder national – immer antiliberal ist.
Der grösste Feind des Sozialisten ist nicht der Reaktionär, sondern der Liberale.
Antizionismus als sowjetischer Staatsbegriff
Der Begriff Antizionismus wird politisch scharf definiert in der Sowjetunion.
Unter Lenin noch ambivalent, ändert sich dies nach 1948 grundlegend:
Israel entsteht – und orientiert sich nicht am Ostblock. Zugleich fühlen sich viele sowjetische Juden Israel verbunden.
Für ein totalitäres System ist das gefährlich.
Offener Antisemitismus ist nach 1945 diskreditiert – also braucht man eine neue Sprache.
Diese Sprache heisst: Antizionismus.
In der Praxis bedeutet das:
Zionist = Bourgeois
Zionist = Imperialist
Zionist = Klassenfeind
Zionist = Volksverräter
Getroffen werden fast ausschliesslich Juden.
1975 übernimmt die UNO diese Logik mit der Resolution „Zionismus ist Rassismus“. 1991 wird sie aufgehoben – die Sprache bleibt.
Gegenwart: moralisch getarnter Antisemitismus
Heute begegnet uns dieser Antizionismus:
auf Campussen
in radikal linken Milieus
in ideologisch verengten Bewegungen
Nicht immer aus Bosheit, sondern aus geschichtsblinder Ideologie.
Währenddessen nimmt Antisemitismus wieder zu – auch in der Schweiz. Synagogen brauchen Polizeischutz. Jüdische Kinder brauchen Sicherheit.
Das zeigt etwas Einfaches: Juden brauchen ein eigenes Land, weil sie hier nicht sicher sind.
Nicht aus Macht. Sondern aus Selbstschutz.
Schluss
Juden machen rund 0,2 % der Weltbevölkerung aus. Die Vorstellung, sie würden die Welt beherrschen, ist keine Analyse – sondern Verschwörungsdenken.
Antizionismus ist kein Fortschritt. Er ist alter Judenhass in neuer Sprache.
Wer wirklich gegen Rassismus ist, muss ihn auch dort erkennen, wo er moralisch klingt. Und wer wirklich für Freiheit ist, beginnt beim Individuum – nicht bei der Ideologie.
Quellen & Fussnoten
[¹] Augustinus von Hippo, De Civitate Dei, Buch XVIII, Kap. 46[²] Karl Marx, Zur Judenfrage, 1844, MEW Bd. 1[³] Ebd.[⁴] Ebd.
Weiterführende Literatur:
Robert S. Wistrich, Socialism and the Jews
Paul Johnson, A History of the Jews
Shlomo Avineri, The Making of Modern Zionism
Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism
IHRA Working Definition of Antisemitism



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